Tomas Venclova: "Der magnetische Norden"

Dichtung gegen das Unglück

Der litauische Dichter Tomas Venclova (r) erhält am 11.11.2013 von Polens Präsident Bronislaw Komorowski den Verdienstorden der Republik Polen.
Der litauische Dichter Tomas Venclova (r) erhält von Polens Präsident Bronislaw Komorowski den Verdienstorden der Republik Polen. © picture-alliance / dpa / Leszek Szymanski
Von Carsten Hueck · 07.03.2017
Tomas Venclova ist die Stimme Litauens in der Weltliteratur. Sein neues Buch nimmt uns durch einen fließenden Erzählton mit und zeigt, wie man auch in totalitären Zeiten würdevoll leben kann.
Eine in Paris lebende Amerikanerin unterhält sich mit einem in Amerika lebenden Litauer über sein Leben. Diese Gespräche erscheinen nun zum ersten Mal - übersetzt auf Deutsch. Internationalität ist bezeichnend für Leben und Werk Tomas Venclovas, beides ist auf gut 650 Seiten nun umfassend zu entdecken.
Der Titel dieser im Dialog entwickelten Erinnerungen, "Der magnetische Norden", verweist auf einen Vers aus einem Gedicht Venclovas:
"Ich ziehe das Unglück an wie der Norden die Kompassnadel
Wie der Magnet die Magneten, so zieht dass Unglück mich an."
Gegen das Unglück setzt der 1937 geborene Autor die Dichtung. Sie ist ihm Widerstand und moralischer Kompass.
Als Lyriker in vielen europäischen Ländern und sogar in China mit Preisen ausgezeichnet, ist Venclova Litauens Stimme in der Weltliteratur. Lakonischer Elegiker und moderner Klassiker, ein freiheitsliebender Kosmopolit, zu Sowjetzeiten Dissident - und heute Ehrenbürger von Vilnius. Ein Unzeitgemäßer, dessen Verse streng geformt sich durch rythmischen Klang auszeichnen.

Seine Lebensgeschichte spiegelt das 20. Jahrhundert

Äußerlich geprägt von Stadtlandschaften und Naturbildern der nordosteuropäischen Heimat verweben Venclovas Gedichte häufig Politisches und Literarisches, historische mit persönlichen Erfahrungen.
Die Lebensgeschichte dieses Dichters, das zeigen seine Erinnerungen eindrücklich, spiegelt das 20. Jahrhundert. Venclova ist Zeuge und Teilnehmer.
Er kommuniziert in seiner Lyrik aber auch über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg. Mit Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz ( mit beiden war er befreundet), stand er ebenso im gedanklichen Austausch wie mit literarischen Vorfahren der Vergangenheit: Generationen von Dichtern, deren Bewusstsein über die eigene Lebenszeit und über persönliche Erfahrungen hinaus weist: Pasternak und Anna Achmatova (beide lernte er noch kennen), aber auch Ossip Mandelstam, Ovid, Konstantin Kavafis, T.S. Eliot und Alexander Puschkin.
Dabei ist Venclova immer ganz gegenwärtiger Dichter. Auch in den Erinnerungen entwirft er eine zeitgenössische Poetik und kommentiert die politischen Entwicklungen der zurückliegenden Jahre. Ästhetische, politische, historische Erfahrungen seiner Zeit gehen durch ihn hindurch, er hebt sie auf - der Vergänglichkeit der Dinge stets eingedenk, doch der Ewigkeit auf der Spur.

Venclova gründete die litauische Helsinki-Gruppe

In drei großen Kapiteln erzählt der Dichter ausführlich über den an historischen Brüchen und Erschütterungen reichen Kulturraum seiner Kindheit und Jugend. Über Litauen im Krieg und die folgende sowjetische Periode. Über Großvater und Vater, einen Stalinpreisträger. Wie er selbst nach Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes sich vom Sowjetsystem abwandte, im Samisdat veröffentlichte. Wie er in Moskau und Vilnius lebte, vom KGB verhört wurde, und die litauische Helsinki-Gruppe gründete. Und wie er 1977 in die USA ausreiste, dort an der UCLA russische Lyrik unterrichtete und bis zu seiner Emeritierung Professor für slawische Sprachen und Literaturen in Yale war.
"Der magnetische Norden" ist ein spannendes Buch, das den Leser durch seinen fließenden Erzählton mitnimmt, das unser historisches Wissen vertieft und anschaulich macht, wie man würdevoll auch in totalitären Zeiten leben kann.

Tomas Venclova: "Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
651 Seiten, 36,00 Euro

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