Zweifelhafte Hilfe

11.08.2010
Humanitäre Helfer stecken seit eh und je in einem Dilemma: Sie verfolgen das Ziel, menschliches Leid in Kriegs- und Krisengebieten zu lindern – verfehlen dieses in der Realität aber oft. Der Grund: Immer wieder missbrauchen Krieg führende Parteien die Ressourcen und das Engagement der Helfer für ihre Zwecke. Deshalb fordert die Journalistin Linda Polman eine Debatte über die Verwendung von Hilfsgeldern und fragt: Wie viel Neutralität dürfen sich Hilfsorganisationen heute noch leisten?
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es organisierte professionelle humanitäre Hilfe, die dem Prinzip verpflichtet ist, Notleidenden vorbehaltlos zu helfen. Schon damals gab es Streit darüber, inwieweit dieser (politisch) neutrale Ansatz der Verlängerung von Kriegen und Krisen Vorschub leistet.

Denn Hilfe war schon immer, und ist heute verstärkt, ein Bestandteil von Kriegsstrategien, schreibt Linda Polman und schildert zunächst, wie sich der Nothilfe-Markt in den letzten dreißig Jahren gewandelt hat. Explosionsartig ist die Zahl der in diesem Bereich tätigen Nichtregierungsorganisationen laut UNO-Schätzungen auf 37.000 gestiegen. Parallel dazu hat sich die Struktur der Konflikte geändert. Heute dominieren Bürgerkriege die politische Landkarte. Mittendrin agieren die humanitären Helfer.

Wie das konkret aussieht, davon zeichnet dieses Buch ein – zuweilen schauriges – Bild. Die Autorin nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise durch verschiedene Krisengebiete dieser Welt. Das kongolesische Goma, Freetown in Sierra Leone, das nigerianische Biafra, Äthiopien, Sudan und Afghanistan sind die wichtigsten Schauplätze, an denen sie die Widersprüche humanitären Handelns verdeutlicht. Polman greift verschiedene Aspekte heraus und unterlegt ihre Kritik mit Fakten, Zahlen, Augenzeugenberichten, mit der Beschreibung menschlicher Brutalität und menschlichen Leides.

Beispiel Goma: Als im Sommer 1994 hunderttausende Hutu – nach dem Genozid an ihren Tutsi-Landsleuten – in den Kongo fliehen müssen, entsteht dort die zu diesem Zeitpunkt bestfinanzierte humanitäre Operation der Welt, so Polmans Recherchen. Mit anderthalb Milliarden Dollar Soforthilfe und täglich einer weiteren Million Dollar können sich die Hutu-Extremisten in den Flüchtlingscamps fast zwei Jahre auf Kosten der Hilfsorganisationen und deren Geldgeber reorganisieren, bis die ruandische Tutsi-Armee die Lager niederbrennt. Eine "ethische Katastrophe" nennt Polman die ungewollte Unterstützung der Hutu unter humanitärer Flagge.

Als destruktiv und kriegsunterstützend beschreibt die Autorin auch die enorme Mittelverschwendung dort, wo Hilfe tatsächlich zu den Opfern gelangt. Denn die "humanitären Räume" in Kriegszonen funktionieren wie Freimärkte: Warlords geben den Helfern meist nur Zugang gegen eine "Kriegssteuer" auf Lebensmittel und andere Hilfsgüter. Das Problem: Die "Steuer" wird entrichtet.

Polmans Buch ist ein bedrückender Report, der zu Recht mit der Forderung an die Hilfsindustrie schließt, ihr Selbstverständnis zu überdenken und sich verstärkt der Frage zu stellen, wo humanitäre Hilfe aufhört, moralisch gerechtfertigt zu sein.

Besprochen von Vera Linß

Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen
Aus dem Amerikanischen von Marianne Holberg
Campus Verlag, Frankfurt/M. 2010
264 Seiten, 19,90 Euro
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