"Zum ersten Mal nimmt man Basisdemokratie in der Kirche ernst"

Moderation: Patrick Garber · 16.11.2013
Papst Franziskus setze auf "Kollegialität" statt auf "päpstlichen Absolutismus", sagt der Tübinger Theologe Hans Küng. Ein sichtbares Zeichen dafür sei der Fragebogen zu den Themen Familie, Ehe und Sexualität, den der Vatikan an alle Bistümer geschickt hat. Im Interview äußert Küng auch die Hoffnung, dass Franziskus das Zölibatsgesetz aus dem 11. Jahrhundert offen diskutieren lässt.
Deutschlandradio Kultur: Ich bin heute in Tübingen, um mit einem Mann zu sprechen, der sein ganzes langes Leben lang schon Tacheles redet – mit seiner Kirche, aber auch mit der Welt. Er ist katholischer Priester, kritischer Theologe, Denker, Weltethiker. Guten Tag Professor Hans Küng.

Hans Küng: Guten Tag Herr Garber.

Deutschlandradio Kultur: Herr Küng, nach einer kaum überschaubaren Reihe von Veröffentlichungen aus Ihrer Feder ist gerade Ihr, wie Sie sagen, "letztes Buch" erschienen, nämlich der dritte Teil Ihrer Lebenserinnerungen mit dem Titel "Erlebte Menschlichkeit". Fertig war dieses Buch ja eigentlich schon vor einem Jahr, aber dann ist in der katholischen Kirche etwas geschehen, was Sie bewogen hat, einen Epilog zu schreiben – der Rücktritt Benedikt XVI. und die Wahl von Papst Franziskus. "Katholischen Frühling" nannten Sie das voller Hoffnung. Sind Sie auch heute so optimistisch, was die katholische Kirche angeht?

Hans Küng: Ja, ich bin noch immer optimistisch. Denn ich habe ja nun gerade in meiner Autobiografie im letzten Teil damit gerechnet, dass ich abtrete. Ich bin von meinen Ämtern als Präsident der Stiftung Weltethos und der Stiftung für Freiheit in der Kirche zurückgetreten. Ich habe damit gerechnet, dass ich gehe und Ratzinger bleibt. Und das hat sich nun plötzlich doch völlig anders ergeben dadurch, dass der Papst Benedikt XVI. noch vor mir zurückgetreten ist.

Deutschlandradio Kultur: Gehen wir zurück an den Anfang Ihrer Erinnerungen, des dritten Bands Ihrer Erinnerungen. Der beginnt mit dem Tiefpunkt Ihres Berufslebens 1980, als Ihnen der damalige Papst Johannes Paul die kirchliche Lehrbefugnis entzogen hatte. Diesen Johannes Paul II. will der gegenwärtige Papst Franziskus im kommenden Jahr heiligsprechen. Was halten Sie davon?

Hans Küng: Ja, ich halte das in verschiedener Hinsicht für eine nicht sehr angebrachte Sache. Erstens werden mal autokratisch die Regeln für die Heiligsprechung außer Kraft gesetzt. Kein Termin wurde eingehalten. Mit dem Wunder ist das auch so eine Sache. Und vor allem ist natürlich die Frage, ob er wirklich ein Heiliger ist. Ich bezeichne ihn als den widersprüchlichsten Papst des 20. Jahrhunderts. Ich urteile nicht über ihn als Person, wenn man so will als Richter, aber ich muss doch rapportieren, was er wirklich geleistet hat. Und da ist halt immer das Bild zwiespältig.

Deutschlandradio Kultur: Er kommt ja nicht sehr gut weg in Ihrer Lebenserinnerung, Johannes Paul II. Aber mit Schritten wie seinem Zugehen auf die Juden und der Bitte um Verzeihung für den jahrhundertelangen, furchtbaren Antijudaismus, mit solchen Schritten und auch mit seinem Charisma, hat er da nicht auch einiges Gutes bewirkt für den Glauben?

Hans Küng: Er hat sicher auch gerade für die Menschen in den Ostländern sehr viel gemacht dadurch, dass er eben Polen unterstützt hat im Freiheitskampf gegen das kommunistische System. Und auch sonst hat er charismatisch gewirkt. Allerdings hat auch das seine Grenzen, denn man sieht nun – ich habe einen interessanten Vergleich mit Präsident Reagan durchgeführt -, dass hier zwei große Kommunikatoren am Werk waren, aber beide haben im Grunde weithin eine reaktionäre Ideologie vertreten, insofern Papst Johannes Paul II. nun doch die Zeiten wieder zurückdrehen wollte und weit in vieler Hinsicht hinter das Zweite Vatikanische Konzil. Er war eben für Freiheit und in der Welt für Menschenrechte, aber in der Kirche war gerade das andere der Fall. Er hat die Freiheitsrechte unterdrückt. Er hat die Frauen nicht aufgewertet. Er hat vor allem mit den kritischen Theologen gar nichts anfangen können usw. usw. Das muss man lesen.

Deutschlandradio Kultur: Ganz anders Papst Franziskus. Der beeindruckt Beobachter, eigentlich auch Nichtkatholiken, durch seinen Stil, seine Bescheidenheit, seine warmen Worte. Trauen Sie ihm auch zu, dass er tatsächlich die Strukturen der katholischen Kirche erneuert, etwa die römische Kurie oder die undurchsichtige Vatikanbank?

"Er wohnt nicht mehr im Palazzo Apostolico"
Hans Küng: Das ist natürlich letztlich eine Frage, ob er sich durchsetzen kann. Aber immerhin, er hat ja nicht nur Stiländerungen gemacht. Er hat das Protokoll völlig verändert. Er wohnt nicht mehr im Palazzo Apostolico. Er hat die Kleidung überhaupt nicht angenommen, diese mit Purpur und allem Möglichen, Hermelin verziert war. Er hat auch die Rede, die Art und Weise, wie er die Leute anredet, mit "buona sera" usw., sofort die Herzen aller gewonnen. Und er hat auch schon die Vatikanbank einer Kommission unterstellt, die untersuchen soll, ob sie überhaupt nötig ist, inwiefern sie nötig ist oder was immer. Das zeigt schon, dass er das anpacken will. Dasselbe gilt für den Vatikanstaat, wo ja die Korruption auch buchstäblich zum Himmel gestunken hat. Das alles hat er jetzt einer neuen Kommission unterstellt. Man wird das sehen, was dabei herauskommt.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt hat der Vatikan einen Fragebogen an alle Bistümer in der Welt herausgeschickt, in dem es um die Themen Familie, Ehe und Sexualität geht, zur Vorbereitung einer Synode zu diesen Themen in Rom im kommenden Jahr. Übt sich die katholische Kirche in Basisdemokratie?

Hans Küng: Ja, sie übt sich jedenfalls mal in Kollegialität. Kollegialität ist ja beschlossen worden vom Zweiten Vatikanischen Konzil gegenüber dem päpstlichen Absolutismus. Der Papst soll im Kollegium der Bischöfe eingebunden werden. Er soll sich also natürlich auch eingebunden fühlen mit dem Volk Gottes. Das alles war aber weithin Theorie unter den beiden Päpsten der Restauration, nämlich dem polnischen Papst und dem deutschen Papst. Und da hat nun Papst Franziskus auch erstaunlicherweise sofort ganz andere Saiten aufgezogen. Und er lässt nun fragen, hat die Laienschaft eingeschaltet. Das sind ja die Fragen, die an die an die Bischöfe gerichtet sind, aber die sollen weitergegeben werden ans Volk. Und die sollen es wieder zurückmelden. Es ist zum ersten Mal, dass man tatsächlich auch die Basisdemokratie in der Kirche ernst nimmt.

Deutschlandradio Kultur: Andererseits gibt es ja noch die Festlegungen seiner Vorgänger, die Sie als "restaurative" Päpste bezeichnet haben, in der kirchlichen Lehre, etwa die Zulassung von Frauen zum Priesteramt, Pflicht-Zölibat, Empfängnisverhütung. Wie weit kann ein neuer Papst da gehen? Und wie weit will dieser Papst gehen, Ihrer Einschätzung nach?

Hans Küng: Also, es sind zwei Fragen. Er könnte, das ist kein Problem, er könnte im Grunde fast alles in der Kirche. Er ist nach dem absolutistischen Kirchenrecht, wie es sich im Mittelalter durchsetzte, der Mann, der zum Beispiel das Zölibatsgesetz, wie man es damals im 11. Jahrhundert eingeführt hatte, über Nacht abschaffen könnte. Es würde aber auch schon ausreichen, wenn er dieses Zölibatsgesetz offen diskutieren ließe und schließlich dann die Entscheidung treffen würde. Also, das könnte er. Ob er es macht, weiß ich nicht. Er strebt es jedenfalls an.

Aber es ist in der Tat die Frage, ob er nur einfach meint, mit – sagen wir mal – Verbesserungen des Umgangsstils die Kirche reformieren zu können oder ob er Strukturreformen durchführt. Das wird gerade auch im Bezug jetzt auf die Frage der Familie, der Sexualität, der Frau eine sehr wichtige Frage sein. Da genügt es nicht nur, einfach schöne Worte zu gebrauchen. Es ist zum Beispiel die Frage, ob er die Enzyklika "Humanae vitae", die ja für viele in Rom als unfehlbar galt …

Deutschlandradio Kultur: … die Pillen-Enzyklika …

Hans Küng: Die Enzyklika, die sich gegen jegliche Form der Empfängnisverhütung ausspricht, die müsste dringend revidiert werden. Wenn die nicht revidiert wird, wenn die katholische Kirche nach wie vor gegen die Pille ist, gegen jede Form der Empfängnisverhütung, gegen künstliche Befruchtung, auch rigoros gegen jede Form von Abtreibung, dann ist das alles für viele Menschen nicht ausreichend.

Und ich möchte mir wünschen, dass er seine Worte auch bis in diese schwierigen Fragen hinein realisiert und dass er den Mut und die Kraft hat, das durchzusetzen. Denn sonst verfliegt dann vieles an der Sympathie, die er jetzt besitzt. Und das ist für ihn sehr gefährlich.

Ich darf darauf hinweisen, dass gerade jetzt der Chef des "Sanctum Officiums", der also auch ein reaktionärer Mann ist weithin, Bischof Müller, früher unbeliebter Bischof von Regensburg, dass der ja nun gerade einen Artikel veröffentlicht hat im "Osservatore Romano", wo er versucht, das Zölibatsgesetz wieder zu retten und alles beizubehalten, wie es war. Da wird es früher oder später zu einer Entscheidung kommen müssen, ob nun wirklich die große Mehrheit der Katholiken, 80, 90 Prozent, die das Zölibatsgesetz abgeschafft haben möchte, dass die zum Zuge kommen oder eben wieder die alte katholische, "römische", besser gesagt, römische Doktrin, die uns so viel Schaden beschert hat und die wesentlich Schuld ist, mit Schuld ist an den Sexualskandalen des Klerus und an der ganzen Entwicklung, Vatileaks und alles, was damit zu tun hat.

Deutschlandradio Kultur: Zu den schönen Worten des neuen Papstes, des Papstes Franziskus, gehören auch bemerkenswert liberale Aussagen zum Thema Homosexualität. Da hat mich vor allem seine Begründung erstaunt. "Wer bin ich, dass ich hier ein Urteil sprechen darf?", fragte der Papst. Ist das eine Abkehr vom bisherigen Amtsverständnis des Papstes als Richter über alles und über jeden?

Papst Franziskus bei den Pfingstfeierlichkeiten auf dem Petersplatz
Papst Franziskus "könnte im Grunde fast alles in der Kirche". Küng wünscht sich zumindest offene Diskussionen.© picture alliance / dpa / Evandro Inetti
"Informell hat er mich – kann man sagen – rehabilitiert"
Hans Küng: Ich glaube, dass er wirklich auch eine neue Bescheidenheit eingeführt, also jedenfalls schon gezeigt hat. Er hat ja auch sehr deutlich gemacht, dass er nicht auf alles immer gleich mit dem moralischen Zeigefinger zeigen will. Er möchte hören, er möchte verstehen. Ich hoffe, dass er auch lernt aus dem, was er erfährt. Denn es ist natürlich eine ungeheure Herausforderung für jeden, der da Papst wird unter diesen Umständen, auf Weltebene nun all die Probleme ernst zu nehmen, die sich vielleicht anders stellen, als in Buenos Aires. Da kann man ihn nur mit großer Sympathie begleiten. Und insofern möchte ich ihn auch in allen Fällen unterstützen. Ich habe ihm auch persönlich einiges zu verdanken.

Deutschlandradio Kultur: Würde dazu auch gehören, dass Sie von ihm erhoffen, dass er Sie rehabilitiert, nachdem Ihnen ja von Johannes Paul II. die Lehrbefugnis entzogen worden ist?

Hans Küng: Also, mir ist das nicht so wichtig, was meine Person angeht, dass das in aller Form geschieht. Informell hat er mich – kann man sagen – rehabilitiert, insofern er sich ganz anders verhalten hat als besonders Johannes Paul II., Wojtyla. Der hat ja in 27 Jahren nie ein Wort an mich geschickt. Er hat mich verurteilt, ohne mich anzuhören. Er hat auf alle Anfragen von meiner Seite nie geantwortet. Ich habe kein Wort von ihm, weder mündlich, noch schriftlich, empfangen.

Da freut es Sie natürlich, wenn Sie nun an den jetzigen Papst schreiben und bekommen nachher ein Handschreiben, das übrigens mit dem schlichten Absender war "F.", also Franziskus, "Domus Sanctae Marthae, Città del Vaticano", und dass er mich anspricht, auf Spanisch haben wir geschrieben, "Sehr verehrter Herr Prof. Küng" – alles unterzeichnet mit "fraternamente", "brüderlich". Das war wirklich ein brüderlicher Brief und nicht ein päpstlicher Brief. Also, da kann man nur hoffen, er findet die Zeit, er findet die Kraft, um alles das zu machen, was er vorhat. Es ist eine ungeheure Aufgabe, eine ungeheuer schwierige Aufgabe. Man kann ihm da nur Gottes Segen wünschen dazu.

Deutschlandradio Kultur: Herr Professor Küng, der Maulkorb, den Ihnen Rom vor mehr als drei Jahrzehnten anlegen wollte, der war mitnichten das Ende Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Sie haben das Projekt "Weltethos" aus der Taufe gehoben, also den Versuch, aus der Sittenlehre aller Weltreligionen grundlegende ethische Prinzipien zu destillieren, auf die sich alle Menschen verständigen können – egal, was sie glauben und ob sie überhaupt etwas glauben. Was haben Sie damit bewirkt?

Hans Küng: Ich glaube, ich habe schon ziemlich weithin einen Stimmungswandel in der Kirche und weit über die katholische Kirche in allen Kirchen, ja sogar, darf ich in Bescheidenheit anmerken, wohl auch weithin in der Welt bewirkt. Jedenfalls habe ich aus allen Kontinenten und aus allen Religionen Zeugnis, dass man die Sätze, die sozusagen das ganze Projekt Weltethos zusammenfassen, billigt, vor allem "kein Friede unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen" und "kein Friede unter den Religionen ohne Dialog der Religionen" – und dann hinzugefügt noch der dritte: "und kein Dialog der Religionen ohne gemeinsame ethische Standards".

Der dritte Punkt ist noch der am wenigsten realisierte. Man realisiert erst jetzt langsam, langsam, dass die Religionen, die so verschieden sind in ihrer Dogmatik, in ihrer Glaubenslehre, dass sie eben in den ethischen Normen, in dem, wie man praktisch ein ethisches, ein humanes Leben führen soll, sehr viel mehr übereinstimmen, als man je geahnt hätte.

Deutschlandradio Kultur: Andererseits, wenn man die Zeitung aufschlägt, liest man tagtäglich von religiös motivierter oder zumindest religiös verbrämter Gewalt. Man liest von Toten. Man sieht vor allem im Nahen und Mittleren Osten auch eine Wiederkehr von konfessioneller Gewalt, also vor allem der Konflikt zwischen der sunnitischen und der schiitischen Version des Islam. Sind wir vom Religionsfrieden, den Sie ja als Voraussetzung für den Weltfrieden definiert haben, nicht besonders weit entfernt in diesen Tagen?

"Es gibt eben auch Fanatiker im Westen"
Hans Küng: Man muss sagen, dass das wirklich zu einem schönen Teil nicht einfach nur die Schuld der Religion ist, sondern vor allem die Schuld der Politik. Das sind zum Teil sicher auch muslimische Fanatiker, aber nicht nur. Es gibt eben auch Fanatiker im Westen. Und vor allem ist, wenn Sie mit Leuten am Golf reden, da hat man mich da gefragt: Wer hat denn eigentlich die anderen angegriffen? Wir haben ja niemanden angegriffen. Die greifen uns an, sowohl in Afghanistan wie in Irak.

Also, da müsste man wirklich sehen, was ist erstens schon gegeben durch arabische Ur-Ethik, die sich vor dem Islam schon entwickelt hat. Was ist dann bewirkt worden durch den Islam positiv auch an Humanisierung? Das ist gar keine Frage. Er hat eine hohe Kultur, vor allem im Hohen Mittelalter gehabt. Und schließlich: Was ist da wieder schief gelaufen?

Deutschlandradio Kultur: Manche atheistischen Denker werfen den Religionen generell, vor allem den monotheistischen Religionen vor, sie seien prinzipiell intolerant, eben wegen ihres Beharrens auf letztgültige Wahrheiten, weswegen eine Welt ohne organisierte Religionen eigentlich friedlicher wäre. Was sagen Sie dazu?

Hans Küng: Also, wir wollen da nicht in Wettstreit eintreten, wer größere Verbrechen begangen hat, nicht wahr, ob die christlichen Kirchen oder Stalin oder Hitler, die also höchstens verbrämt religiös sein wollten, also, die Hekatomben, die die Roten Khmer usw. geopfert haben. Also, das ist – glaube ich – nicht gut, wenn man sich das gegenseitig vorhält. Man sollte sehen, dass auf beiden Seiten es auch positive Strömungen gibt. Es gibt Atheisten, die eingetreten sind für Humanität, besser als manche Christen. Und umgekehrt gibt’s auch viele Christen, die natürlich gerade gegenüber den anderen Religionen, gegenüber den anderen Weltanschauungen dafür eingetreten sind und die wahrhaftig zum Frieden beigetragen haben.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass Religionen sehr oft zum Krieg angestiftet haben und Kriege legitimiert haben, Feindseligkeiten wachgerufen haben. Aber das andere ist auch wahr: Wenn Sie in der Weltgeschichte rumschauen, dann können Sie auch viele Fälle sehen, wo Religionen geholfen haben, die Aggressivität abzubauen, die Kriegslust zu dämpfen oder wieder zur Versöhnung beizutragen.

Das stimmt für viele Konflikte in Lateinamerika, im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie auch. Das betrifft auch Martin Luther King in Nordamerika. Das betrifft etwa die Situation, die ich noch vor der Abschaffung der Apartheid direkt kennenlernte, in Südafrika. Überall gab es christliche oder religiöse Führer, Führungspersönlichkeiten, die geholfen haben, dass man den Hass übersteigt und zu einer konstruktiven Haltung kommt, wie sie vor allem jetzt Bischof Tutu, ein guter Freund von mir, in Südafrika praktiziert hat, indem er eine Wahrheitskommission vorgeschlagen hat, wo jeder sich rechtfertigen konnte und nicht einfach eine Aburteilung erfolgt ist, wenn er die Wahrheit sagte.

Deutschlandradio Kultur: Herr Professor Küng, Ihr Projekt Weltethos hat inzwischen hier in Tübingen einen festen institutionellen Rahmen gefunden, die Stiftung Weltethos. Und die finanziert an der Universität Tübingen ein Weltethos-Institut mit einer Professur für globales Wirtschaftsethos. Warum gerade Wirtschaftsethik? Warum nicht ein Lehrstuhl für interreligiösen Dialog oder für multikulturelle Erziehung?

Hans Küng: Das haben wir im Grund schon abgedeckt. Ich habe ja nun ein ganzes Œuvre in Bezug auf diesen Dialog vorzuweisen. Das bedeutet die Grundlage für die Arbeit der Stiftung Weltethos im Allgemeinen. Wir führen das natürlich weiter. Und das wird auch an diesem Institut gemacht.

Das Institut ist ein Institut für Weltethos, heißt Weltethos-Institut und nicht nur für Wirtschaft. Aber der erste Lehrstuhl – oder die erste Professur genauer – ist nun gerade Wirtschaftsethos gewidmet. Und das ist ja nun von besonderer Wichtigkeit, weil gerade da die großen Probleme heute liegen. Denken Sie an die ganze Weltwirtschaftskrise. Denken Sie an das, was im Bankenwesen schief lief. Denken Sie an all das, was heute das Währungssystem erschüttert.

Das zeigt, dass das zu einem schönen Teil auch wieder Fragen des Ethos sind. Es sind nicht immer komplizierte Fragen der Wirtschaftsethik, es sind auch elementare Fragen, dass eben in den Banken gestohlen worden ist, und zwar in Milliardenhöhe, wie man jetzt weiß. Durch die Verurteilung durch die amerikanischen Gerichte sind da Milliarden an Buße gefordert worden. Und die Justiz hat Zeit gebraucht, aber sie zeigt, dass es hier um elementare ethische, moralische Mängel geht, die eben, wenn es besser werden soll, behoben werden müssen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Professor Küng, mit Ihrem mehrfach schon erwähnten Buch "Erlebte Menschlichkeit" haben Sie auch in einem weiteren Punkt Aufsehen erregt. Sie haben sich für ein selbstbestimmtes Sterben ausgesprochen. Sie selbst leiden an der Parkinson-Krankheit. Und Sie haben zusehen müssen, wie Ihr guter Freund, der Philologe Walter Jens, über Jahre hinweg in der Demenz versunken ist. Sie sagen, Sie wollen nicht als Schatten Ihrer selbst weiterexistieren. Geht die Freiheit eines Christenmenschen so weit, dass er über das Wann und das Wie seines Todes selbst entscheiden darf?

"Es geht da nicht um Mord"
Hans Küng: Ich meine natürlich nicht eine willkürliche Entscheidung. Ich meine nicht, dass also jedermann – sagen wir mal, ein Geschäftsmann, der ein Fiasko erlebt hat, ein finanzielles Fiasko, einfach Frau und Kinder aufgeben kann – und jetzt also sich selber töten darf. Ich lehne übrigens das Wort "Selbstmord" ab. Es geht da nicht um Mord. Es geht nicht um etwas hinterrücks an anderen Verübtes. Aber die Frage, ob die Verantwortung des Menschen auch für das Sterben da ist, soweit er das wahrnehmen kann, ist sicher.

Das Leben ist für mich als gläubigen Menschen ein Geschenk Gottes letztlich, aber es ist auch zugleich in die Verantwortung des Menschen gegeben. Es ist in meine Verantwortung gegeben, wie ich mit dem Leben umgehen soll. Das wird im Allgemeinen von allen Christen anerkannt, von allen Gläubigen anerkannt. Es ist nur die Frage, ob das nicht auch in der letzten Phase gilt. Und das betone ich eben. Es gilt auch in der letzten Phase und gilt insofern auch für die Art und Weise und auch den Zeitpunkt des Sterbens. Insofern kann ich auch verstehen, dass nicht alle Menschen da sofort zustimmen, wenn ich da eine ziemlich radikale Lösung vorschlage, dass man jedenfalls hier selber über das Leben verfügen kann.

Ich muss pro Tag rund zehn Pillen verschlucken wegen Parkinson und anderen Krankheiten. Ich wäre wohl früher, schon vor Jahren vermutlich, gestorben. Heute leben alle Menschen länger. Wir haben ein neues verlängertes Leben bekommen glücklicherweise durch Medizin, durch Pharmazie und alle die verschiedenen sozialen Möglichkeiten uns ein längeres Leben verschafft.

Aber heute stellt sich das Problem anders. Heute können viele Menschen überhaupt nicht mehr natürlicherweise sterben. Sie werden unter Umständen mit einer Magensonde am Leben gehalten – gegen ihren Willen. Es wird alles gemacht in medizinischem Aktivismus, wo man die Leute besser sterben ließe. Im Jahre 1954 hat mein Bruder einen ersten Anfall erlebt. Es war, wie man dann herausfand, ein Gehirntumor, der nicht operabel war. Er war ein Jahr lang dann krank. Die letzten Wochen habe ich erlebt, wie er da keuchte und keuchte und nicht mehr atmen konnte, bis das Wasser in der Lunge so weit gestiegen war, dass er anschließend verstarb. Schon damals, also vor so vielen Jahrzehnten habe ich gedacht, so möchte ich nicht sterben.

Und das habe ich auch dann bei Walter Jens gesehen, der mit mir zusammen diese Auffassung vertreten hat in dem Buch "Menschenwürdig sterben", ein Appell an die Selbstverantwortung, der aber den Zeitpunkt des Sterbens verpasst hat und dann eben wirklich als der Schatten seiner selbst noch lebte. Und wir waren wirklich froh, als er sterben konnte. Das war eine neue Erfahrung für mich, das von der Nähe so in dieser Form zu erleben.

Deutschlandradio Kultur: Aber die katholische Kirche sagt dazu, man dürfe weder anderen, noch sich selbst das Leben nehmen.

Hans Küng: Wir sind in einer Situation, wie wir vor einigen Jahrzehnten waren in der Frage des Anfangs des Lebens, so jetzt in der Frage am Ende des Lebens. Dass das verfügt sei, das wissen wir ja gar nicht. Ich weiß nicht, wann das verfügt worden sei, wann ich sterben soll. Kein Mensch weiß das. Es wird ihm nicht durch eine direkte Offenbarung offenbar. Er muss das selber erforschen. Und er sollte das steuern. Man hat auch da große Fortschritte gemacht, sowohl in der Medizin wie in der Rechtsprechung wie auch in der Theologie.

Man sieht heute, dass man da nicht einfach alles abwarten muss. In der passiven Sterbehilfe, dass man die Apparate abstellen kann usw., hat man sich weithin geeinigt. Es geht jetzt drum, ob unter Umständen es nicht besser ist, eine Morphiumspritze zu erhöhen, um also jemanden sterben zu lassen. Das ist unter Umständen besser, als einfach nur jemanden da in einem Koma – bewusst oder unbewusst – liegen zu lassen.

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie schließen aktive Sterbehilfe auch nicht aus?

Hans Küng: Ich schließe aktive Sterbehilfe nicht aus. Ich meine auch, dass überhaupt der Unterschied zwischen passiv und aktiv gar nicht bestimmt werden kann. Denn wenn Sie einen Hahn abstellen für Atmung oder für flüssige Nahrung usw., dann sind Sie ja maximal aktiv, unter Umständen aktiver, als wenn Sie als Arzt die Morphiumdosis ein wenig erhöhen. Das geschieht übrigens ständig. Das weiß man. Das ist das offene Geheimnis, dass ständig in dieser Grauzone das gemacht wird. Aber viele Ärzte sagen, ‚ja, überlasst das uns.‘ Das möchte ich eben nicht. Ich kenne viele Ärzte, die das gut machen. Und ich habe nicht ein Misstrauen grundsätzlich gegen die Ärzte, aber es gibt auch Ärzte, die stur sind, die also sagen, ‚nein, ich mache das nicht und es braucht das nicht.‘

Ich möchte das Wohl des Kranken, das ja die "suprema lex", das oberste Gesetz sein soll, möchte ich nicht vom guten Willen eines Arztes abhängig machen. Verantwortlich für sein Sterben ist der Patient selber und nicht jemand anderer.

"Lebensmüde oder "lebenssatt"?"
Deutschlandradio Kultur: Herr Küng, Sie bezeichnen sich als "nicht lebensmüde, aber lebenssatt", ein biblischer Ausdruck, der unter anderem im Buch Hiob vorkommt. Was ist der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen – nicht lebensmüde, aber lebenssatt? Ist es Neugierde zum Beispiel?

Hans Küng: Ja. Das Wort "lebenssatt" kommt aus der Bibel, obwohl im Hebräischen zwei Worte gebraucht werden: "betagt" und "gesättigt". Und ich meine einfach, ich habe alles erlebt, was ich erleben konnte. Ich habe 85 Jahre hinter mir. Und ich habe ein reiches, zum Teil sehr spannendes Leben erlebt, auch mit vielen Kämpfen. Und ich bin jedenfalls nicht bereit, noch sozusagen in eine Periode einzutreten, wo ich eben nur noch – wie ich immer formuliere – der Schatten meiner selber bin. Ich möchte so sterben, wie ich es mir selber vorstelle.

Ich habe gerade jetzt eine Auszeichnung bekommen von der DGHS, von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben. Die ist für mich wichtig, weil innerhalb der Sterbeorganisationen, auch in der Schweiz, in der Exit-Organisation, diese Alternative, die ich aufzeige, sozusagen einen dritten Weg der Vernunft zwischen einem absoluten Ablehnen jeder Sterbehilfe oder auch – anders als eine Beliebigkeit des Sterbens – eben eine Verantwortung, den Weg der Mitte angebe, die bei mir persönlich und bei Vielen im Glauben gründet. Indem ich mich auf Gott verlasse, kann ich ja auch nun diesen Weg einschlagen.

Ich gehe ja nicht in ein Nichts nach meiner Auffassung, nach meiner Glaubensüberzeugung. Ich gehe, ich sterbe in eine letzte Wirklichkeit jenseits von Raum und Zeit ein, wo die menschliche Vernunft nach Immanuel Kant nicht mehr kompetent ist, weder Ja sagen kann, noch Nein. Ich sterbe also in Gott hinein, deutlich gesagt. Und das ist ein Akt des Vertrauens. Das ist ein Akt, den man nicht beweisen kann mathematisch-naturwissenschaftlich, der aber viele gute Gründe hat, warum man das annehmen kann. Das nehme ich an.

Und insofern kann ich freier sein in der Beurteilung des menschlichen Lebens. Ich will also nicht einfach ewig irdisch leben, um alles rauszuholen, wie das viele Menschen machen, weil sie Angst haben vor dem Sterben und nicht wissen, was hinter der Tür ist, oder nicht sich entscheiden können für dieses Vertrauen, dass hinter der Tür etwas ist. Also, das möchte ich nicht, sondern ich möchte bewusst sterben, und zwar eben als religiöser Mensch. Das hat man doch auch jetzt in der DGHS sehr dankbar aufgenommen als eine neue Möglichkeit, die also sicher noch viel zur Diskussion und auch zur Umkehr der Gemüter führen kann.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
Mehr zum Thema