Zum 30. Todestag von Marc Chagall

Bedrückter Kommentator der Weltgeschichte

Der Maler Marc Chagall im Juni 1982
Der Maler und Grafiker Marc Chagall im Juni 1982 kurz vor seinem 95. Geburtstag im französischen Saint-Paul-de-Vence. Er starb am 28. März 1985. © picture alliance / dpa / Foto: AFP
Von Thomas Klatt · 27.03.2015
Für die einen ist der französische Maler Marc Chagall der Meister der Farbe und der Gestalter der Bibel. Für andere ist er ein Küchenkalender-Maler. Die wenigsten aber wissen, dass er ein russischer Jude war, der schon 1938 die Schrecken der Nazis vorhersah.
"Chagall hat das Leitmotiv des Bundes schon in sein Schöpfungsbild hineingeholt. Und dahinter steckt eine ganz tiefe theologische Einsicht. Mystische Schau. Was geschieht denn eigentlich, wenn Gott erschafft? Dann ist es doch so, als ob ein Funke seiner schöpferischen Energie vom Schöpfer gleich einem Lichtbogen auf das Geschöpf überspringt, genau wie hier gemalt."
Seit 1978 hält Pfarrer Klaus Mayer Andachten und Meditationen über die Chagall-Fenster in der Kirche St. Stephan zu Mainz. In all den Jahren knapp über 3700 Veranstaltungen, in denen er rund eine halbe Millionen Menschen erreicht hat, rechnet der Geistliche vor.
"Es ist ein Geschenk und eine pastorale Möglichkeit, Bibel an Menschen heranzubringen."
Blaues Licht strömt in das gotische Kirchenschiff. Das Blau des Himmels, das Blau der Schöpfung, das Blau der Côte d’Azur, wo Chagall zuletzt nahe Nizza gelebt und gearbeitet hatte. Aus dem überfließenden Blau treten biblische Figuren hervor, Adam und Eva, Moses, König David mit der Harfe, Bathseba, die Prophetin Deborah, der gekreuzigte Jude Jesus, hinaufstrebend zum himmlischen Jerusalem. Neben der "Commedia dell'arte" in der Frankfurter Oper sind die Mainzer Kirchenfenster das einzige Großwerk, dass Chagall für Deutschland geschaffen hat. Von 1976 bis kurz vor seinem Tod im März 1985 hat er an den insgesamt 28 Kirchenfenstern gearbeitet.
Mayer: "Er war umwerfend bescheiden, liebenswürdig, und natürlich hat er auch etwas Kindliches gehabt, das ist sicher richtig."
Sabine Koller: "Er hat immer den naiven Künstler gespielt und sich auch als solchen beschrieben. Und er hatte sicher diese naive sehr sehr liebenswerte Seite. Aber dennoch hat er sehr genau verfolgt, was geschieht, auch in politischer Hinsicht, und er hat mit seinen Bildern, und dazu gehören eben auch die jüdischen Figuren, die ja fast stereotypenhaft wiederkehren als Archetypen, er hat mit ihnen eine Gegengeschichte geschrieben."
"Marc Chagall stammt ja selber aus Vitebsk"
Die Regensburger Kulturwissenschaftlerin und Slavistin Sabine Koller. Wenn man Chagall verstehen will, so müsse man sich zuerst mit seiner Herkunft auseinandersetzen, sagt sie.
"Marc Chagall stammt ja selber aus Vitebsk, zur Zeit seiner Geburt gehörte das zum russischen Zarenreich, und der Name geht eigentlich zurück auf seinen jüdischen Namen Moishe Shagal. Wir kennen ihn ja in Europa alle als Marc Chagall, also eher in der französischen Betonung. Der Name selber ist aber eben russischen Ursprungs, die Vergangenheitsform des russischen Verbs chagaz, Schreiten, weit Ausholen, das heißt, Marc Chagall ist auch Marc Schritt, der Maler, der schreitet, der weit ausholt, und diesen haben Sie auch sehr oft auf seinen Bildern, wenn er mit gespreizten Beinen durch die Luft fliegt und fast im Spagat da durch die Lüfte sich bewegt und damit weit ausholt."
Chagall ist geprägt vom russisch-jüdischen Stetl, vom Lubawitscher Chassidismus seiner Kindheit und Jugend. Noch im Erwachsenenalter las er stets in seiner jiddischen Bibel. Daraus schöpfte er viele seiner Motive, Fiddler auf den Dächern und auf den Straßen, Rabbiner und betende Juden, Darstellungen des Laubhüttenfestes oder Purim, aber eben auf seine Art.
"Chagall hat sehr sehr ironisch das übliche religiöse Treiben verfolgt, beobachtet und eher Distanz gehalten, dass er mit vielen Elementen spielt und als ästhetische Möglichkeit sieht, seine Bilder damit aufzuladen. Ein junger, aufmüpfiger, talentierter jüdischer Maler, der sich aber von den religiösen Ursprüngen etwas wegbewegt oder einer zu gläubigen Anteilnahme kritisch verhält."
Ein Fenster des französischen Malers Marc Chagall in der Stephanskirche in Mainz 
Ein Fenster des französischen Malers Marc Chagall in der Stephanskirche in Mainz (Rheinland-Pfalz).© picture alliance / dpa / Foto: Fredrik von Erichsen
Ein eifriger Synagogengänger ist Chagall nie geworden, obwohl sein Vater ein strenggläubiger Chassid war. Seine erste Ausbildung erhielt er an der Malschule Vitebsk, der ersten jüdischen im ganzen Zarenreich. Später ging Chagall nach St. Petersburg. Auch in Berlin machte er Station. Seinen künstlerischen Durchbruch aber erlangte er in Paris. Dort übte er sich in Kubismus, Fauvismus und anderen neuen Kunstformen.
"Ich meine dass zu seinen wichtigsten Bildern zählt das 'Selbstporträt mit sieben Fingern', im Hintergrund sieht man den Eiffelturm und auf der anderen Seite des Bildes in einer Wolkenhülle als Vorstellungswelt Vitebsk. Das ist sein ästhetisches Koordinatensystem. Er selbst vor der Staffelei mit den sieben Fingern. Etwas mit allen sieben Fingern tun heißt, etwas mit Leib und Seele tun!"
Chagall war aber nicht einfach nur kindlich-naiv, wie er immer wieder in Biografien beschrieben wird. Für Sabine Koller war er auch ein bedrückter Kommentator der Weltgeschichte. 1938 malte er als Reaktion auf die Reichspogromnacht seine "Weiße Kreuzigung", der Jude Jesus, die Scham verhüllt mit dem Gebetsschal, ein brennender Thora-Schrein, flüchtende Juden, eine Vorahnung der künftigen Shoah. Ein, wenn nicht vielleicht das Hauptwerk von Marc Chagall ist für Sabine Koller jedoch sein Engelsturz.
"Ein Bild zeigt in der Mitte einen flammend roten Engel, der vom Himmel auf die Erde niederstürzt, unten im Bild sieht man links einen Juden mit einer Thorarolle in der Hand. Sie ist geöffnet. Und der Jude, der die Thorarolle trägt, wendet sich ab, blickt aber zu ihm zurück. Die Mutter Maria mit dem Christus Immanuel und dahinter der gekreuzigte Jude. Und dieses Bild der Engelsturz ist eine Darstellung der unmittelbaren Gefährdung der irdischen aber auch der himmlischen Ordnung durch den heraufbrechenden Nazismus, durch Hitler, bis hin zum zweiten Weltkrieg mit der Judenvernichtung und dem Abwurf der Atombombe."
Im Dritten Reich ein entarteter Künstler
In Deutschland aber wurde Chagall vor allem als Maler der Bibel bekannt, wie eben in der Kirche St. Stephan. Nur ist er dafür nie persönlich in Mainz gewesen, wie er überhaupt nach dem Krieg nie mehr Deutschland betreten hat. Chagall wurde im Dritten Reich als entarteter Künstler verfemt. Die Vernichtung seines Volkes durch die Nazis habe er nie verwinden können, sagt die katholische Theologin Margret Zeimens.
"Es hieß immer, nach Chagall war nie in Deutschland mehr nach dem Krieg und ist auch nicht nach Deutschland gekommen. Ja, es hieß immer, Alter und Krankheit. Aber, wenn man seine Biografie anschaut, hat er zu der Zeit, als die Fenster hier entstanden, noch lange große Reisen gemacht."
Andererseits wurde Marc Chagall gerade im Nachkriegsdeutschland sehr populär und verkaufte sich gut. In zahlreichen Bibelillustrationen, Andachtsbüchern bis hin zu Küchenabreißkalendern wurden nicht nur seine biblischen Figuren abgedruckt. Für die ehemalige Vorsitzende des Fördervereins Biblische Botschaft Marc Chagall in Mainz wurde der Künstler damit auch benutzt, und er ließ sich benutzen, war es doch auch ein einträgliches Geschäft für ihn.
"Ja, was war denn das, was ausgestellt wurde? Seine Liebespaare, seine wunderbaren Blumenbilder, seine Zirkuswelten, seine heiteren, lebensfrohen Traumwelten, all das wurde ausgestellt. Im Grunde war er der Publikumsliebling. Er hat natürlich den Massengeschmack bedient, er war figurativ, er war nicht abstrakt, unpolitisch und unproblematisch."
Auch wurde Chagall hierzulande jahrzehntelang als französischer Maler bekannt gemacht. Dass Marc Chagall russischer Jude war, wurde in den hiesigen Kirchen lange Zeit gar nicht großartig thematisiert.
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