Zirkelschlüsse und grobe Fehler im Versuchsaufbau

18.06.2012
Die australische Psychologin Cordelia Fine nimmt moderne, teils weltberühmten Forschungsarbeiten zum Thema Geschlechterdifferenzen unter die Lupe. Ihr Ergebnis: Die meisten Versuchsanordnungen sind selbst von Geschlechterstereotypen geprägt - und beweisen nach Meinung der Autorin gar nichts.
Um zu prüfen, ob weibliche und männliche Jungaffen ein unterschiedliches Spielverhalten an den Tag legen, studierten Forscher die Reaktion von Meerkatzen auf eine Reihe typischer Spielsachen. Dabei waren: ein Polizeiauto und ein Ball als Jungensspielzeug. Ein Bilderbuch und ein Plüschhund als neutrales Angebot. Eine Puppe und eine kleine Bratpfanne als Avance an weibliche Präferenzen. Und beobachtete.

Was, kann man in "Die Geschlechterlüge" nachlesen. So heißt das wunderbare neue Buch der Psychologin und Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine. Sie befasst sich darin mit modernsten, teils weltberühmten Forschungsarbeiten zum Thema Geschlechterdifferenzen. Das Ergebnis, von der Autorin mit klugem Humor dargeboten, liest man wahlweise amüsiert, laut lachend oder mit zu Berge stehenden Haaren.

Der Murks der Meerkatzen-Studie liegt offen zu Tage. Jedem Laien dürfte klar sein, dass Affen, egal welchen Geschlechts, weder Spiegeleier braten noch Polizeifantasien hegen. Vor allem die Hirnforschung hüllt sich jedoch in ein imposantes Fachvokabular, das schwache Studiendesigns übertüncht. Cordelia Fine macht sich an die dankenswerte Arbeit, dutzenden von Originalpublikationen und ihrer populärwissenschaftlichen Verbreitung auf den Zahn zu fühlen. Ganz gleich wohin sie greift - ob es um Sprachtalente, Gehirn-Hälften-Nutzung, Empathievermögen oder Abstraktionsfähigkeiten geht -, die Autorin findet Zirkelschlüsse und grobe Fehler im Versuchsaufbau.

Was ist von einer Studie über Spielzeugpräferenzen zu halten, die einen Technik-Baukasten aussortiert, weil die Mädchen zu gern damit spielten? Was ist davon zu halten, wenn Psychologen Babys auf angeboren-geschlechtsspezifisches Verhalten untersuchen, die von ihren Eltern in rosafarbenen und hellblauen Strampelanzügen herbeigetragen werden dürfen? Warum gehen Forscher eigentlich davon aus, ihre dreißigjährigen Studienteilnehmer seien direkt aus dem Himmel der reinen Biologie ins Test-Labor gefallen?

Tatsächlich entfalten sich menschliche Fähigkeiten eng mit der Kultur verwoben, wie die Autorin eindrucksvoll belegt. So sind in Armenien fast fünfzig Prozent der Informatik-Studierenden weiblich - in den USA gerade einmal fünfzehn Prozent. Lässt man Studienanfängerinnen einen Mathe-Eingangstest in einem Raum absolvieren, der im Nerd-Stil mit Science-Fiction-Plakaten ausgestattet ist, schneiden sie um Klassen schlechter ab als in einem Raum, der das Foto einer erfolgreichen Mathematikerin präsentiert. Wie subtil sich Geschlechterstereotype auf das Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten auswirken, erzählen in dem Buch auch Menschen nach einer Geschlechtsumwandlung.

Es ist an der Zeit, betont Cordelia Fine am Ende ihres intelligenten und überaus kurzweiligen Buches, im Umgang mit der Geschlechterfrage zu beherzigen, was in vielen Sparten der Biologie längst zum Allgemeinwissen gehört: Die biologischen Grundlagen des Lebendigen sind keine festgelegten Entitäten, sondern sie eröffnen innerhalb eines weiten Rahmens Potenziale und Entwicklungsspielräume.

Besprochen von Susanne Billig

Cordelia Fine: Die Geschlechterlüge
Aus dem Englischen von Susanne Held
Verlag Klett-Cotta
476 Seiten, 21,95 Euro