Zehn Jahre Impulspapier "Kirche der Freiheit"

Mit viel Pathos falsche Ziele gesetzt?

Zwei Frauen und ein Mann sitzen am in der Marktkirche in Hannover.
Statt des erhofften Wachstums ist die Quote der Besucher von evanglischen Gottesdiensten auf 3,5 Prozent gesunken. © picture alliance / dpa/ Julian Stratenschulte
Von Michael Hollenbach · 26.06.2016
Neoliberaler Zeitgeist durchzog das Papier "Kirche der Freiheit", mit dem die EKD vor zehn Jahren Aufbruchsstimmung verbreiten wollte. Doch das Experiment mit Trau- und Taufquoten, Qualitätsmanagement und Benchmarking ging gründlich schief, sagen Kritiker.
Zu den schärfsten Kritikerinnen des Impulspapiers "Kirche der Freiheit" zählt Isolde Karle. Die Bochumer Theologieprofessorin moniert, dass die Spitze der EKD mit viel Pathos falsche Ziele gesetzt habe:
"Wir wachsen gegen den Trend, wir machen ganz tolle Reformen, es gibt einen Paradigmenwechsel und einen Mentalitätswechsel - das sind alles Dinge, die eine Organisation gar nicht entscheiden kann. Was eine Organisation entscheiden kann, das sind eben Strukturveränderungen, aber nicht das, was in den Köpfen der Leute vorgeht, und schon gar nicht den Glauben."

Surfen auf der neuen Welle der Religiosität

Thies Gundlach, einer der Autoren des Impulspapiers und heute Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, beschreibt die damalige Hoffnung:
"Wir hatten alle das Gefühl, es ist eine Aufbruchszeit, die Wiederkehr der Religionen führt dazu, dass unsere Gemeindeangebote neuen Wind unter die Flügel kriegen, dass wir auf dieser Welle surfen können."
Deshalb die Vision, gegen den Trend wachsen zu können:
"Das war sicherlich eine zu euphorische Formel, die auch entmutigt hat, das glaube ich auch. Insofern würde ich diese Formel auch nicht noch mal nehmen."
Thies Gundlach räumt ein, dass man die gesellschaftliche Debatte damals falsch eingeschätzt habe:
"Die Grundtendenzen, dass die Menschen heute individualistischer leben, dass sie Institutionen skeptisch gegenüberstehen, dass sie auch ihre Frömmigkeit nicht mehr in klassisch-dogmatischen Zusammenhängen formulieren, sondern sprachlos werden oder eigene Formulierungen wählen, das sind Grundtendenzen. Dagegen anzuwachsen war ein Missverständnis und das schaffen wir auf gar keinen Fall."
Statt Mitgliederwachstum gehe es heute vielmehr darum, einen radikalen Glaubensabbruch zu verhindern – zentrale Aufgabe sei es, das Evangelium überhaupt an die nächste Generation weiterzugeben.

Der "Rückzug aus der Fläche" war ein Fehler

In der Broschüre "Kirche der Freiheit", die vor zehn Jahren 40.000 Mal verschickt wurde, setzte die Kirchenleitung den Fokus unter anderem auf regionale Zentren, auf Profilgemeinden, auf Leuchttürme, die in die Fläche ausstrahlen sollten. Isolde Karle:
"Es ist sicherlich sinnvoll, Leuchttürme in Großstädten zu haben und die besonders finanziell auszustatten, aber dieser Rückzug aus der Fläche, Abwertung aus den Ortsgemeinden, das war der völlige Wahnsinn. Die fünfte Mitgliedschaftsuntersuchung zeigt ganz deutlich, dass die lokale Präsenz von Kirchen und von Pfarrerinnen und Pfarrern absolut elementar ist für die Kirchenmitglieder."
Den Kurs des Rückzugs aus der Fläche hat die EKD-Leitung später korrigiert. Notwendigerweise, meint die Bochumer Theologieprofessorin:
"Ich denke, dass gerade für die volkskirchliche Struktur, wo wir viele Christen haben, die jetzt nicht so wahnsinnig engagiert sind, sondern eher kirchendistanziert sind, dass da die Erreichbarkeit der Kirche elementar ist, um überhaupt noch Kontakt zur Kirche zu haben. Auch die Niedrigschwelligkeit, auch die Zufälligkeit der Begegnung mit Kirche, und wenn die dann 20 Kilometer fahren müssen für den Konfirmandenunterricht, dann kann man das vergessen, dann geht da niemand mehr hin."
Das Papier "Kirche der Freiheit" war als Krisenprävention gedacht. Das damalige Credo: Ohne Kurskorrekturen sei die Kirche – so wörtlich – "aufgrund des hochexplosiven Gemischs aus Versorgungskosten, Teuerungsrate und schrumpfenden Einnahmen" nicht mehr handlungsfähig. Doch aufgrund der guten Konjunktur in den vergangenen Jahren stiegen die Kircheneinnahmen sogar; der Reformdruck war passé. 2006 wollte die EKD-Führung der Krise mit einer Art wirtschaftlicher Anpassung begegnen. Von Tauf- und Trauquote war die Rede, von Qualitätsmanagement; ökonomische Begriffe wie Benchmarking, Marktverlust und Kerngeschäft prägten das Papier. Thies Gundlach verteidigt den damaligen Rekurs auf neoliberales Denken:
"Wir können natürlich auch durch besonders großen Abstand unsere evangelische Kirche durch die Zeiten steuern, aber das halte ich für unklug, und man wird nicht leugnen können, dass diese neoliberale Grundhaltung, diese Marktorientierung, die ist eine bestimmende Plausibilität, wir müssen uns auch im Wettbewerb mit Anbietern des Freizeitbereichs bewähren, und das kann man doof finden, das gibt sogar gute Gründe, aber da einfach zu sagen: Nee, wir machen das nicht, führt zu einer Alternativität, die weit ab von den Menschen und ihren Sorgen sind."

Quote der Gottesdienstbesucher ist auf 3,5 Prozent gesunken

Das Papier lag mit vielen Erwartungen daneben: statt zu wachsen sind die Mitgliederzahlen weiter geschrumpft, die Quote der Gottesdienstbesucher liegt nicht bei den für 2030 erhofften zehn Prozent, sondern ist auf 3,5 Prozent gesunken. Landeskirchen sollten fusionieren, damit sie mindestens eine Million Mitglieder haben und möglichst identisch sind mit den Grenzen der Bundesländer. Doch hat beispielsweise die Landeskirche von Anhalt gerade mal 38.000 Mitglieder, und allein auf dem Gebiet von Niedersachsen befinden sich fünf Landeskirchen.
An der Basis seien die Konsequenzen der Reformstrategie deutlich zu spüren, sagt Andreas Reinhold, Sprecher des kirchlichen Basisinitiative "Kirchenbunt im Rheinland":
"Das Papier hat ja so einen wirtschaftsaffinen Duktus und der hat sich durchgezogen bis in die Gemeindebasis hinein, was den Gemeinden vor Ort fast die Luft zum Atmen nimmt."
Andreas Reinhold kritisiert vor allem die Top-Down-Strategie des damaligen EKD-Rates, eine Reform von oben mit Druck nach unten durchzusetzen:
"Wir brauchen einen ehrlichen, offenen und auch kritischen Dialog zwischen den einzelnen Ebenen und der ist in den letzten Jahren durch die Hierarchisierung und Kompetenzverlagerung ins Stocken geraten, so dass ich das Gefühl habe, dass man da oben nicht mehr so richtig weiß, was da unten läuft, und da unten immer mehr der Frust größer wird, was die da oben entscheiden. Und da brauchen wir eine neue Gesprächsfähigkeit zwischen den Ebenen."
Das sieht Thies Gundlach heute wohl ähnlich:
"'Kirche der Freiheit' hat vor zehn Jahren eine gute Zeit, seine Zeit gehabt, aber wer das heute wiederholen wollte, wäre mit dem Klammerbeutel gepudert. Man kann das auch nicht wiederholen. Das wäre nicht sinnvoll."
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