Woran Bob Marley glaubte

Von Ralf Bei der Kellen · 07.05.2011
Die Karibikinsel Jamaika war nicht nur Bob Marleys Geburtsort, sondern auch seine spirituelle Heimat. Hier entstand in den 1930er Jahren der Glaube "RastafarI", dem Marley anhing und den er auf seinen Konzerten in aller Welt propagierte.
"Yeah! Yeah! RastafarI! Rastaman Vibration positive!"

So begrüßte Bob Marley auf seiner Welttournee 1978 sein Publikum. Die Presse feierte ihn als "ersten Superstar der Dritten Welt", seine Alben erreichten sechsstellige Auflagenzahlen. Damals wie heute war aber nur wenigen Menschen bewusst, dass Marley nicht nur den Reggae international bekannt machen wollte, sondern auch seinen Glauben.

"RastafarI!"

"Ja, man könnte ihn tatsächlich auch als Botschafter von RastafarI bezeichnen. Es gibt da eine Geschichte, dass er Anfang der Siebziger von Mortimer Planno, einem damals sehr sehr wichtigen Rastaführer, mehr oder weniger den Auftrag erhielt, die Message von RastafarI in der Welt zu verbreiten – was er dann auch gemacht hat."

Volker Barsch, Autor des Buchs "RastafarI: Von Babylon nach Afrika". Die Wurzeln dieser Glaubensrichtung erklärte Marley selbst in einem Interview von 1979 so:

"Die RastafarI-Bewegung begann mit der Krönung seiner Majestät, König der Könige, Ras Tafari. Als ihn die Bibel offenbarte, fügte sich alles zusammen."

Die Majestät, von der Marley spricht, ist Haile Selassie der 1., der ursprünglich "Ras Tafari Makonnen" hieß und nach dem sich die Bewegung benannte. Als er 1930 zum Kaiser von Äthiopien gekrönt wird, gibt er sich den Titel "Haile Selassie", zu Deutsch: "Macht der Dreifaltigkeit". Selassie Krönung wurde von vielen Heilspredigern auf Jamaika als die Erfüllung einer Prophezeiung des schwarzen Bürgerrechtlers Marcus Garvey gesehen. Der in den USA lebende gebürtige Jamaikaner hatte kurz zuvor die nahe Ankunft eines afrikanischen Messias aus der Bibel abgeleitet.

"Aus Ägypten werden Prinzen hervorgehen und Äthiopien wird bald seine Hände nach Gott ausstrecken."

So heißt es im 68. Psalm des Alten Testaments nach der Übersetzung der englischen King James-Bibel von 1611, die Garvey als Grundlage für seine Prophezeiung gedient haben wird.

Haile Selassie wurde von der zu Beginn der 1930er Jahre entstehenden Rasta-Bewegung aus mehreren Gründen zum Messias erkoren. So war Äthiopien der bis dahin einzige afrikanische Staat, der sich erfolgreich von einer Kolonialmacht befreit hatte und somit ein Symbol für die Freiheit aller afrikanischstämmigen Menschen war. Zudem wohnten Selassies Krönung viele europäische Staatsoberhäupter bei, was in den Augen der frühen Rastas die Bedeutung des Kaiser-Messias bestätigte.

"Jah RastafarI!"

Volker Barsch: "Meistens wird 'Jah' als Kurzform von Jahwe oder Jehova interpretiert."

Matthias Pöhlmann: "Man kann sagen, dass 'Jah' zunächst mal vielleicht als Schöpferkraft und als Energieform akzeptiert wird. Aber wie das natürlich beim Rastafarianismus so ist, ist es schwer, das dogmatisch näher zu fassen."

Matthias Pöhlmann, wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen EZW in Berlin.

Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, dass für den Rasta "Jah" das Göttliche an sich symbolisiert, das jedem Menschen innewohnt. Manche Rastas sprechen auch von einer heiligen Trinität aus Jah, Haile Selassie als seiner weltlichen Inkarnation und Marcus Garvey als seinem Prophet.

Um zu erfassen, warum die Jamaikaner so empfänglich für die Prophezeiung Garveys waren, muss man die Geschichte der Karibikinsel betrachten. Seit Anfang des 16. Jahrhunderts war Jamaika eine spanische Kolonie. 1517 brachte man die ersten afrikanischen Sklaven auf die Insel. Die Urbevölkerung wurde verdrängt und starb schließlich aus. 1655 fiel die Insel an die englische Krone. Die Briten lehnte eine Christianisierung der Sklaven ab – aus Angst, sie könnten sich unter dem Dach der Kirche gegen die Kolonialherren organisieren. 1832 endete die Sklaverei auf Jamaika.

In der Folge kamen schwarze Baptistenprediger aus den USA auf die Insel. Sie erfreuten sich sofort eines regen Zulaufs und die ehemaligen Sklaven wurden zu Christen. Dabei vermischte sich das Christentum häufig mit den Resten afrikanischer Religionen. Die frühen Rasta-Prediger, die Haile Selassie als reinkarnierte Gottheit ansahen, waren davon beeinflusst. Volker Barsch:

"In diesem Synkretismus wurden natürlich viele christliche Geschichten anders interpretiert. Ich denke, man kann sagen, dass hier schon eine sehr flexible Auslegung des Christentums stattgefunden hat und dass die Rastas sicherlich in gewisser Weise in dieser Tradition stehen."

Zwar entstand RastafarI aus jüdisch-christlichen Wurzeln, die Auslegung der Bibel ist aber eine ganz eigene.

Matthias Pöhlmann: "Es gibt eben eine spezielle Hermeneutik, mit der diese Texte dann auch angesehen werden; das ist sozusagen die Hoffnung der Schwarzen auf Erlösung, auf Befreiung. Und alle Stellen, die dafür infrage kommen, werden eben herangezogen, um diese Hoffnung ganz stark zum Ausdruck zu bringen."

Werner Zips: "Das heißt, die Bibel wird gedacht als eine Art Rahmen, und man versteht das ungefähr so, dass, nachdem sie von Europäern geschrieben wurde in der King James Version, werden die nicht so viel gelügt haben in der Bibel, dass ein Rest von Wahrheit immer noch drin sein muss. Das ist sozusagen der Grundgedanke."

So beschreibt es Werner Zips, Professor für Ethnologie an der Universität Wien. Ausgehend von den Erfahrungen der Kolonialzeit beginnen die Rastaprediger die Heilsversprechung der Bibel umzudeuten.

"God black! God black!"

Matthias Pöhlmann: "Das Ganze hängt natürlich zusammen mit der Begegnung, die im Alten Testament berichtet wird, von König Salomo und der Königin von Saba, dass es dort bereits sozusagen eine enge Verbindung gegeben habe zwischen Judentum und Äthiopien. Und manche gehen jetzt einen Schritt weiter und sagen: Ja, diese ganzen Heilsversprechen gelten jetzt der schwarzen Rasse, das heißt, es hätte eine neue Phase der Heilsgeschichte begonnen, die Schwarzen sind sozusagen das auserwählte Volk."

"Wir wissen wohin wir gehen,
denn wir wissen woher wir kommen.
Wir verlassen Babylon,
wir gehen in das Land unseres Vaters.
Exodus.
Der Auszug von Jahs Volk!"


Werner Zips: "Das wäre in Relation zum Auszug der Israeliten aus Ägypten der Auszug aller Schwarzen aus Babylon – also, was sie als modernes Babylon bezeichnen, sprich aus der westlichen Hemisphäre. Und damit der Bruch mit der Sklaverei."

Matthias Pöhlmann: "Er [Marley] hat ein Livealbum veröffentlicht mit dem Titel 'Babylon by Bus'. Beschrieben wird also eine Tour durch, ja, die westliche Welt, durch die weiße Kultur, die ja letztlich dem Untergang geweiht ist. Im Hintergrund steht die Erwartung, dass diese Kultur untergeht und dass die Rasta-Bewegung sich durchsetzten wird."

Als sich 1975 die Nachricht von Selassies Tod verbreitete, taten die Rastas – die ohnehin nicht an den Tod glauben – das als eine Lüge Babylons ab. Marley nahm ein Lied mit dem Titel "Jah live!" auf.

Matthias Pöhlmann und Volker Barsch kategorisieren RastafarI als "neureligiöse Bewegung". Das bedeutet: Es gibt einen eigenen Kult, religiöse Vorstellungen und Rituale. Eine solche Bewegung ist aber auch immer Ausdruck einer Protesthaltung gegenüber den etablierten Religionen. Dieses Protestmoment macht RastafarI für viele Europäer interessant – vor allem bei Jugendlichen aus der "alternativen Szene".

Sie solidarisieren sich mit den Anliegen der ehemals unterdrückten Jamaikaner durch das Tragen von "Dreadlocks", den "Furchtlocken". Auch diese haben eine religiöse Dimension: Viele Rastas identifizieren sich mit der biblischen Figur des Simson, der seine Kraft in seinen Haaren trug. Simson gehörte zur Gruppe der Nasiräer. Diese legten ein Gelübde ab, das sich im 4. Buch Mose findet:

"[…] Kein Schermesser [soll] sein Haupt berühren, bis die Zeit abgelaufen ist, für die er sich dem Herrn als Nasiräer geweiht hat. Er ist heilig, er muss sein Haar ganz frei wachsen lassen."

RastafarI hat – ähnlich wie das Christentum – viele verschiedene Ausprägungen. Die Ausübung ihres Glaubens kann unter den verschiedenen Rasta-Gruppierungen ganz unterschiedlich ausfallen: Die meisten von ihnen treffen sich zu sogenannten "Reasonings", die im Stil der "oralen Tradition" Afrikas gehalten sind und als philosophische Diskussionsrunden mit Gottesdienstelementen gesehen werden können.

Bei solchen Versammlungen spielt auch Marihuana, von vielen Rastas auch als "Wisdom Weed", als Kraut der Weisheit bezeichnet, eine Rolle. Das Rauchen von Marihuana ist für sie eine Möglichkeit, Kontakt mit dem Göttlichen, mit "Jah" aufzunehmen. Diese Praxis hat auf der hiesigen Seite des Atlantiks einige kuriose Blüten getrieben. Matthias Pöhlmann:

"In Europa gibt es eben den Versuch, den Konsum von Marihuana als Ausdruck der Religionsfreiheit zu begreifen und zu verteidigen. Man kann das Beispiel des bayerischen Rastaanhängers Hans Söllner nennen, der geklagt hat und das mit aller Gewalt durchsetzen wollte, dass eben sein Ganja-Genuss, das Rauchen von Marihuana, Ausdruck seiner persönlichen Religionsfreiheit ist, er ist mit diesem Antrag gescheitert, das wurde abgelehnt."

"In Babylon is Fasching,
der Deifi mischt sich unters Volk"


Hans Söllner: "Also es war natürlich so, des I durch Reggae natürlich zu Rasta kimme bin, wie die moisten sog I jetzt a. Bob Marley war natürlich die Nummer eins bei all diesen Sachen, die ich gehört habe. Und dann natürlich später übers Marihuanarauchen, des is’ natürlich dann der zweite Punkt gwesen, warum man irgendwie zu Rasta kimmt oder zu Reggae."

Der bayrische Liedermacher und Sänger Hans Söllner dürfte der wohl bekannteste deutsche Rasta sein. Sein Weg zu RastafarI ist typisch für den vieler europäischer Anhänger. Seit fast zwei Jahrzehnten reist Söllner immer wieder nach Jamaika, um dort die Religion der Rastas zu studieren. Und die ist mehr als nur Kiffen und Dreadlocks:

"I hob halt gmerkt, dass es ein großes Ding ist bei diesen Leuten, dass sie die Aufgabe haben, auf sich selbst sehr gut aufzupassen. Das heißt, sie derfen eigentlich a vom Glauben her kaan Alkohol trinken, sie derfen kaan Nikotin rauchen, sie derfen sich einfach nur 'ital', also sauber ernähren, salzlos, fleischlos, und ham halt dann, sog I jetzt mal als 'deutscher Rasta', sich die Hintertüre freigehalten, bestimmte Fischarten zu essen – wobei jetzt Raubfische do net dozughern."

Die strengen Essensvorschriften der Rastas ähneln in vielem denen der Juden.
Neben dem Marihuanakonsum hat vor allem ein anderer Aspekt die Religion in den letzten Jahren in Misskredit gebracht.

In den frühen 1980er Jahren wurde in der jamaikanischen Popmusik der Reggae vom Dancehall-Stil abgelöst. In den Texten ging es nun vor allem um prahlerische Berichte über Gewalttaten und sexuelle Aktivitäten. Daneben gab es in einigen Liedern Aufforderungen, homosexuelle Menschen zu diskriminieren oder gar zu töten – wie zum Beispiel in Buju Bantons Lied "Boom Bye Bye" aus dem Jahr 1992:

"Boom Bye Bye
Eine Kugel in den Kopf des Schwulen
Wir wollen keine Schwulen
Sie müssen sterben"


1995 wurde Banton zum bekennenden Rasta. Sein Kollege Sizzla tat es ihm ein paar Jahre später gleich. Beide sangen weiterhin homophobe Texte. Als im Juni 2004 der jamaikanische Homosexuellenaktivist Brian Williamson auf der Karibikinsel ermordet wurde, führte dies zu weltweiten Protesten von Schwulenverbänden gegen die Rasta-Musiker. Konzerte mussten abgesagt werden. RastafarI geriet in Verruf.

Volker Barsch: "Natürlich beziehen sich einige auf bestimmte Bibelstellen aus Genesis oder Levitikus, wo es dann heißt, ein Mann soll nicht neben einem anderen Mann liegen oder sich mit einem Mann verhalten wie mit einer Frau. Sie definieren Homosexualität als etwas Europäisches, also da konstruieren sie so einen Gegensatz zwischen afrikanischer Männlichkeit und europäischer Homosexualität. Sie sehen praktisch Homosexualität als eine Erfindung der Europäer bzw. des Vatikans in der Bildersprache der Rastas ausgedrückt."

Bei vielen indigenen Völkern in Nord- und Südamerika gehörte Homosexualität vor der Kolonialisierung einfach zur Kultur – oder sie kannten das Konzept nicht, da sie homosexuelle Menschen als eine Art drittes oder viertes Geschlecht begriffen. Die Homophobie und vor allem die gesetzliche Bestrafung von Homosexualität ist ein Erbe der christlichen Kolonialmächte. Auf Jamaika drohen homosexuellen Männern bis heute zwischen zwei und zehn Jahren Gefängnis. Das Gros der Jamaikaner wie auch der Rastas begreifen heute die importierte Homophobie als Teil ihrer eigenen Kultur, die sie sich nicht von Europäern oder Amerikanern ausreden lassen wollen. Der Rastaforscher Werner Zips glaubt dennoch, dass es sich lohnt, mit Rastas über das Thema Homophobie zu diskutieren:

"Was ich mir da vielleicht vorstellen könnte, ist, dass man sehr wohl das Argument einbringt, dass diese Form der Sexualitätsvorstellungen, wie sie in Jamaika und vor allem in vielen ehemaligen Kolonien dominant sind, viel stärker entspricht den Moral- und Sexualitätsvorstellungen der katholischen Kirche, also des Papstes, um es kurz zu sagen; als etwa von fortschrittlichen Denkern als etwa wie eines Desmond Tutu in Südafrika. Das sind Argumente, die man glaube ich schon bringen könnte, und die den einen oder anderen sicherlich zum Denken und zum Reflektieren bringen würden."

Bibelfesten Christen mag der RastafarI-Glaube zu synkretistisch, um nicht zu sagen: An den Dreadlocks herbeigezogen erscheinen. Als Religion ehemaliger Sklaven ist RastafarI auch eine Reaktion auf die unchristlichen Aktivitäten von Christen. Matthias Pöhlmann:

"Die Geschichte des Christentums ist auch eine Geschichte des Versagens von Christinnen und Christen, auch des Versagens von Kirche. Ich denke, in Gestalt dieser neureligiösen Bewegungen werden uns natürlich auch, ich möchte sagen, Erfahrungen von Unterdrückung, von Leid auch nochmal vor Augen geführt, wo man eben auch sagen muss: Die Unterdrücker, die dafür auch verantwortlich waren, waren ja zunächst mal auch Christen. Und das sind in gewisser Weise natürlich auch mit Schuldscheine, die die Weißen auch zu verantworten haben."