Wolfram Siemann: "Metternich"

Zu gut, um wahr zu sein

Der Wiener Kongress (18. September 1814 bis 9. Juni 1815) unter Vorsitz von Klemens Wenzel Fürst von Metternich (stehend 6.v.l.)
Der Wiener Kongress (18. September 1814 bis 9. Juni 1815) unter Vorsitz von Klemens Wenzel Fürst von Metternich (stehend 6.v.l.) © picture alliance / dpa
Von Günter Müchler · 06.02.2016
Der österreichisch Diplomat und Außenminister Fürst von Metternich (1773-1859) galt hierzulande lange als Erzreaktionär und Feind der deutschen Einheit. Der Historiker Wolfram Siemann versucht eine Totalrevision des Metternich-Bildes - aber schießt übers Ziel hinaus.
Jahrzehntelang war Metternich kein Thema für Biografen. Metternich, der Erzreaktionär, der Häscher der Freiheitsfreunde und Behinderer der deutschen Staatwerdung: Dieses von der borussischen Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts geprägte Zerrbild des europäischen Staatsmanns schien lange durch nichts zu erschüttern.
Erst die Beschäftigung mit den friedenssichernden Aspekten der Wiener Grundordnung von 1815 setzte ein paar hellere Farbtöne. Wolfram Siemann hat jetzt eine Totalrevision des Metternich-Bildes versucht.
Ein sträflich verkannter Politiker?
Für den emeritierten Münchner Historiker ist er ein sträflich verkannter Politiker. Der Langzeitminister habe konsequent, aber undogmatisch, in der Zeit stehend und doch schöpferisch das Habsburgerreich und mit ihm Europa durch schwierige Zeitläufte gesteuert, innenpolitisch orientiert am Status quo, außenpolitisch am Mächtegleichgewicht. Hoch rechnet Siemann Metternich an, dass er früher als andere die zerstörerische Kraft des Nationalismus erkannte.
Siemann hat die Quellen studiert, auch die ungedruckten. Entstanden ist ein Werk, das sich trotz seiner Opulenz (fast 800 Seiten) gut liest. Die Stärke des Buches ist der Wille, Klischees zu zertrümmern.
Der wendige Diplomat wird zum fehlerlosen Strategen umgedeutet
Die Schwäche ergibt sich fast zwangsläufig aus dem antithetischem Ansatz. In dem Bemühen, seinen Helden zu entdämonisieren, schießt er über das Ziel hinaus. Siemanns Metternich ist keineswegs der wendige Diplomat; er ist vielmehr, wie der Untertitel hervorhebt, Stratege und Visionär, in der politischen Aktion geradlinig und nahezu fehlerlos.
Nichts bleibt übrig vom "Kerl, der finassiert", wie ihn der Freiherr vom Stein und andere Zeitgenossen sahen. 1809, beim glücklosen Alleingang Österreichs gegen Napoleon, habe Metternich ganz und gar nicht zur Wiener Kriegspartei gehört, behauptet Siemann, womit er in einem formalen Sinn Recht hat.
Ebenso richtig ist freilich, dass Metternich als Botschafter in Paris die Stärke Frankreichs unterschätzte und die Wiener Kriegspartei mit fehlerhaftem Material fütterte.
Die mit den Karlsbader Beschlüssen einsetzende Repressionspolitik erklärt der Historiker damit, dass Geheimbünde überall in Europa Komplotte gegen die herrschende Ordnung geschmiedet hätten.
Der Versuchung des Bilderstürmers erlegen
Sein Adlatus hielt ihn für verschwörungs-paranoid. Die These ist angreifbar. Gewiss gab es Terrorakte, Verschwörungen waren in Mode. Aber die Revolutionswelle von 1830 wurde nicht von einer Fünften Kolonne fabriziert, sie wurde hervorgerufen durch absolutistisches, unzeitgemäßes Herrschaftsgebaren. Metternichs Adlatus Gentz war nicht der einzige, der den Minister für verschwörungs-paranoid hielt.
Siemann unterliegt der Versuchung des Bilderstürmers: er übertreibt. Sein Metternich ist zu gut, um wahr zu sein. Trotzdem verdient seine Biografie als Versuch, Leben und Werk Metternichs vom Kopf auf die Füße zu stellen, Anerkennung.

Wolfram Siemann: "Metternich - Stratege und Visionär. Eine Biografie"
C.H. Beck Verlag, München 2016,
752 Seiten 29,95 Euro
Erscheint am 10. Februar 2016

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