Wo bleiben die Lichterketten …

Von Cora Stephan · 01.10.2006
Uns reißt ja nichts mehr von den Stühlen, uns dekadente Westler, keine Tabuverletzung, kein Frevel, keine Grenzüberschreitung, kein gar nichts. Was Wunder: Das bisschen Herumgefrevele an Kirchen und christlichen Symbolen erledigen unsere evangelischen Pastoren gleich selbst und noch bevor irgendjemand ein Tabu oder bloß so etwas wie Anstand oder Dezenz einfordern kann, gibt es schon einen anderen, der vorauseilend zu umfassender Toleranz aufruft.
Da ist es doch schön, wenn es wenigstens eine fremde Kultur gibt, die mal ein bisschen Bewegung ins Land der unbegrenzten scheißliberalen Duldsamkeit bringt. Altertümliche Wendungen wie "Sie haben meine religiösen Gefühle beleidigt, mein Herr" zeigen eine ganz andere Wirkung, wenn sie von einer aufgebrachten Menge schreiender Bärtiger vorgebracht werden.

Einfühlungsbereiten Rundfunkmoderatorinnen jedenfalls scheint das imponiert zu haben, deren Stimme andächtig zitterte, als sie "der Papst steht in der Kritik" intonierten, weil er die Gefühle anderer Männer beleidigt habe. Und Opernintendantinnen knicken ein, nicht etwa, weil der liebe Herr Jesu beleidigt worden wäre, sondern weil fromme Muslime im symbolischen Mord des Propheten eine unerträgliche Kränkung erblicken könnten, die sie womöglich zu Gewalttaten bewegt.

Es ist zu einem erstaunlich kritiklos eingeführten Topos geworden, dass weit wichtiger als die westlichen Freiheiten die Rücksicht auf womöglich verletzte Gefühle nichtwestlicher Menschen, nein, genauer: Männer sei. Ist das der Sieg weiblichen Einfühlungsvermögens über die kühle Rationalität des westlichen Mannes, der Logik und Gesetz vor Gefühl und Religion stellt? Sieht ganz so aus. Zwar ist es nicht zu übersehen, dass die Intendantin der Deutschen Oper Berlin, Kirsten Harms, auch Beute politischen Ungeschicks ist. Aber die Absetzung von Mozarts "Idomeneo" vom Spielplan passt nicht schlecht zu ihrer Analyse des weiblichen Prinzips in der Politik. Bereits in der Februarausgabe der Zeitschrift Cicero über weiblichen Führungsstil jedenfalls skizzierte sie, was sie jetzt geleitet haben mochte: "Weibliche Prinzipien", heißt es da, "folgen dem Prinzip des Einfühlens, der Empathie." Die Frage laute: "Was will der andere? Was ärgert ihn? Was fürchtet er?"

Das werden wir Frauen hierzulande wohl ewig fragen, auch dann noch, wenn wir längst zur Ganzkörperverschleierung übergegangen sind, weil unser Anblick fundamentalreligiöse Männer verletzen könnte.

Gegenfrage: haben wir hier eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Und gibt es demnächst Lichterketten vor der Deutschen Oper in Berlin?

Es ist in der Tat ein Zeichen von Dekadenz, wenn eine Kultur ihre tragenden Prinzipien und damit sich selbst nicht mehr verteidigen kann oder will. Denn es ist ja nicht das durchaus opportunistische, aber noch verständliche Prinzip der Gefahrenabwehr, die Entscheidungen wie die der Intendantin der Deutschen Oper bestimmt. Ein Fernsehfilm, der sich mit der real existierenden Gewalt türkischer Jugendlicher beschäftigt, wurde ohne solcherlei Not auf einen öffentlichkeitsfernen Sendeplatz verschoben, ganz offenkundig allein aus dem Grund, dass der Film nicht das übliche ausgewogene Versöhnungsprogramm abspulte, sondern einen Teil der Wirklichkeit wiedergab, den wir gern verdrängen, weil er nicht ins friedliche Multikulti-Image passt.

Wollen wir wirklich nicht begreifen, dass nicht alle so friedlich und tolerant sind wie wir sein möchten und dass es Menschen gibt, die schon bei vermuteter Verletzung ihrer Gefühle oder ihres Ehrbegriffs zur Faust oder zur Waffe oder zu Sprengstoff greifen? Das Verständnis für fremde Kulturen und die political correctness, niemanden zu verletzen oder zu diffamieren, sind symbolische Akte der Höflichkeit nur dort, wo sie wechselseitig gelten. Es gibt indes Menschen, die nicht daran denken, den ihnen erwiesenen Respekt auch zu erwidern.

In vorauseilender Empathie mit den Beleidigten dieser Erde üben wir Selbstzensur, opfern die Meinungsfreiheit und womöglich noch ganz andere Errungenschaften. Pro domo gesagt: ich fürchte allmählich um die Siege, die die Frauenbewegung hierzulande davongetragen hat – und diesmal wäre nicht das Patriarchat allein am backlash schuld. Sondern all jene, die die verletzten Gefühle der Männer ernster nehmen als die Gefahren für Leib, Leben und Freiheit der Frauen in patriarchalischen Kulturen, die Selbstbestimmung zu den Dekadenzerscheinungen des Westens zählen.

Nicht bärtige Schreihälse verdienen unsere Empathie, sondern die Frauen, die sich gegen die Intoleranz eines religiös gefärbten Patriarchats zur Wehr setzen. Stellvertretend für viele seien hier wenigstens drei der Mutigen genannt: Ayaan Hirsi Ali, Seyran Ates, Necla Kelek. Ihnen gebührt unsere Solidarität, unsere Sympathie und unsere Verteidigungsbereitschaft.


Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".