"Wir vertreten die Hoffnung"

Maria-Christina Färber im Gespräch mit Holger Hettinger · 26.08.2010
Vor 100 Jahren wurde Mutter Teresa geboren. Die Friedfertigkeit, für die sie stand, möchte Schwester Maria-Christina Färber heute der Gesellschaft Albaniens vermitteln, die noch immer von Gewalt geprägt ist.
Holger Hettinger: Am 26. August 1910, heute vor 100 Jahren wurde Mutter Teresa geboren. Die Ordensschwester mit albanischen Wurzeln gründete 1950 in Kalkutta den Orden Missionarinnen der Nächstenliebe. Gemeinsam mit ihren Mitschwestern kümmerte sich Mutter Teresa um die Armen, die Sterbenden, die Waisen. Mit ihrer gelebten Spiritualität und ihrem Einsatz für die Ärmsten wurde Mutter Teresa zu einer Ikone der Barmherzigkeit. Was ist geblieben von Mutter Teresas Botschaft, von ihrem Leben für die Werke der Barmherzigkeit?

Das ist nun mein Thema mit Schwester Maria-Christina Färber. Sie ist Mitglied der Spirituellen Weggemeinschaft Haus der Stille, die ihren Sitz in der Schweiz hat. Seit elf Jahren unterhält sie in Shkodra, im Norden Albaniens, ein spirituelles Zentrum. Dort geht es nicht nur um Einkehr und Gebet, sondern auch um Dinge der praktischen und logistischen Alltagsbewältigung. Straßenbau und der Anbau von Lebensmitteln gehören ebenso dazu wie Kriminalitätsvorsorge und Jugendarbeit.

Ich habe mit Schwester Maria-Christina vor der Sendung gesprochen. Meine erste Frage war, was Mutter Teresa für die Menschen in ihrer albanischen Heimat heute bedeutet.

Schwester Maria-Christina Färber: Also Mutter Teresa ist – ich sage jetzt das Wort gegenwärtig, sie ist eine Persönlichkeit nach wie vor, jetzt vom Himmel aus, die die Albaner, ich glaube sehr inspiriert und einfach, ich sage, da ist, ja, sie ist da. Und das erleben wir schon, wenn wir nach Shkodra in die Stadt fahren, ist eine Figur der Mutter Teresa da, und für uns ist sie einfach auch Fürbitterin in Situationen, die uns vielleicht an die Grenze bringen oder so. Sie ist da.

Hettinger: Nun ist unser Albanienbild ja geprägt von Reportagen, oft auch von Kolportagen, und da hat man so ein bisschen das Bild von einem Land, in dem das schiere Chaos herrscht, in dem keine Infrastruktur herrscht, in dem Gewalt, in dem archaische Traditionen einen hohen Stellenwert haben. Wie geht das zusammen, so eine friedvolle, friedliebende Mission wie die der Mutter Teresa, und das in einem Umfeld, das alles andere, so scheint es jedenfalls, als aufnahmebereit ist für solche Botschaften?

Färber: Also ich denke, wo Gewalt ist, muss auf der anderen Seite etwas anderes sein, dass nicht nur die Gewalt regiert, und das ist die andere Seite, die das friedliche Zusammenleben vertritt. Und je mehr Gewalt im Alltag ist, desto mehr – ich sag jetzt von mir, müssen wir das Gegenteil vertreten, das friedliche Zusammensein, der Versuch gegen die Gewalt, ich sag jetzt das Wort, aber im christlichen Sinne gemeint, Liebe zu setzen, und das muss daneben sein, sonst gäbe es auf der Welt, ich glaube, nur noch Chaos.

Hettinger: Ist es für die Menschen, die so unmittelbar von dieser Gewalt betroffen sind, spürbar?

Färber: Sie meinen jetzt unsere Arbeit?

Hettinger: Ja, ich denke also an Ihr Umfeld, an die Menschen, die Sie betreuen, denen Sie Kraft geben.

Färber: Also sie kommen zu uns, ich denke so ein Beispiel, es ist eine Großmutter, die betreut zwei Enkelkinder in einem sehr gewaltsamen Umfeld, und die läuft nur bei uns vorbei und sagt: Wenn ich nur bei euch vorbeilaufe, dann spüre ich schon wieder innere Ruhe. Das ist so ein Ausdruck für uns, dass vielleicht was wirkt, und mit Gottes Hilfe können wir unsere friedlichen Grundsätze vertreten, indem wir anbieten, dass die Menschen zu uns kommen können, die irgendwie mit Gewalt zusammenkommen, heißt das Blutrache oder gewaltvolles Umfeld, häusliches Umfeld.

Unsere Kinder bekommen noch als Erziehungsmaßnahme sehr viel Schläge, und spürbar ist es da, dass wir einen Kindergarten haben seit eineinhalb Jahren, der heißt gleichzeitig auch gewaltfreie Zone. Auch die Mütter und Väter schlagen ab dem Tor ihre Kinder nicht mehr, und das wissen die Kinder. Und indem es bei uns ruhiger ist, es keine Strafen gibt, auch keine Körperstrafen, werden die Kinder automatisch ruhiger, und das überträgt sich wieder auf das Umfeld, das Häusliche.

Hettinger: Das heißt, diese gewaltfreie Zone – ist es jetzt nicht so, die gehen dann da raus, und dann ist alles wieder wie vorher, sodass – das strahlt auch ein bisschen ab in deren Alltag?

Färber: Also die Erfahrung machen wir, dass Mütter plötzlich kommen und sagen, mein Kind ist ja anders. Und damit hat die Mutter auch weniger Stress, und das spürt sie. Und die Mütter kommen und sagen: Wie macht ihr das? Und ich gebe jetzt inzwischen Mütterberatung oder Mütterstunden, wo sie in Scharen kommen und wissen wollen, ja, wie kann ich denn mein Kind auch ohne Schläge erziehen? Wenn es auch nicht klappt, aber immerhin werden sie sich dem bewusst, und manche Kinder kommen und sagen, meine Mami hat mich heute nicht geschlagen.

Hettinger: Das sind die Mütter. Was ist mit den Vätern, die oft in sehr traditionellen und auch sehr archaischen Rollenbildern letztlich handeln?

Färber: Ja klar, die Väter sind aus den Bergen in unserem Gebiet und haben dann den Frust, dass sie unten im Tal keine Arbeit finden, dass die Erwartungen nicht stimmen. Ihr Vaterbild, das sie in den Bergen wirklich gelebt haben mit Arbeiten für die Familie, kommt völlig durcheinander. Sie haben nichts mehr zu tun, fangen dann aus Frust zu trinken an, den Raki, und ja, zum Schluss schlagen sie halt nur noch, und sind betrunken, schlagen ihre Frauen. Andererseits ist die Frau im Kanon auch wertlos.

Kanon ist das Gesetz der Berge, wo schriftlich auch festgelegt ist, der Mann hat das Recht, die Frauen zu binden und zu schlagen. Also das gibt es auch noch vom traditionellen Kanon her.

Hettinger: Ganz schön brutal. Haben Sie überhaupt eine Möglichkeit an die Männer ranzukommen in irgendeiner Weise mit Ihrer Botschaft?

Färber: Also wir arbeiten viel mit Männern, wir haben schon, zum Beispiel Mitarbeiter als Männer, und da haben es ein paar wirklich kapiert, die das also wieder weitergeben, und an Männer ranzukommen ist schwieriger, als an Frauen ranzukommen, aber ich bin selber vom bäuerlichen Umfeld aufgewachsen und kann dann schon mal auch mit Männern reden. Wenn ich rausfahre und es ist Heuernte, dann kann ich mich hinstellen und sagen, ja, und wie geht es, habt ihr ein gutes trockenes Heu, und das akzeptieren die, ja?

Oder Straßenbau: Wir haben abgemacht, wenn Gewalt einbricht, dann stoppen wir den Straßenbau, jeder Konflikt wird gewaltlos gelöst. Und wir laden auch die Männer ein, und wir kommen an die Männer ran, wenn es um Blutrache geht, da kommen isolierte Männer zu uns, die Blutgeber sind, und von da versuchen wir auch einzuwirken.

Hettinger: Blutgeber heißt?

Färber: Blutgeber heißt, es sind Opfer von Blutrache, jene, die gerächt werden, das heißt mit dem Blut, mit dem Leben bezahlen müssen.

Hettinger: Ich bin ganz sprachlos, ganz still, weil ich mir nur schwer vorstellen kann, dass im Prinzip in einem nicht allzu weit entlegenen Zipfel von Europa, im Norden Albaniens, doch noch solche archaische Sitten herrschen. Wie ist denn da Ihre Prognose, ist es eine Frage von Generationen, dass sich da wirklich mal was entwickelt? Weil, diese Traditionen sind ja Jahrhunderte alt, man war sich auch immer selbst genug, gibt es da irgendeine Hoffnung für die Menschen, dass – hehres Wort – dass so etwas wie humanitäre Grundsätze dort in irgendeiner Weise mal Grundlage des Zusammenseins, des Zusammenlebens werden könnten?

Färber: Also wir sagen mit jedem Gespräch, das wir führen, haben wir eine Chance, mit jeder Intervention, die wir tun, mit jeder Familie, die wir besuchen, und ja, von jetzt bis 500 Jahre ist unsere Prognose. Und wenn wir die Hoffnung aufgeben, dass sich was tut, wird nichts passieren, und jeden, den wir irgendwie erreichen können, der ist Hoffnungsträger, und wenn der Rächer 100 mal Nein sagt, er versöhnt nicht vielleicht beim 101. Mal, wo wir hingehen, wird das Herz ein bisschen weicher. Und ja, wir haben jetzt einen Fall, wo innerhalb der Rächer-Familie ein Verbündeter ist, der die Rache ablehnt und uns Zeichen gibt, gegen den Rest der Familie, und das sind Hoffnungen, die wider Erwarten sind und die nur Gott geben kann, und wir vertreten die Hoffnung.

Hettinger: Sie haben gesagt, Sie kommen aus dem ländlichen Bereich, sind seit 1999 in Albanien. Was hat Sie in dieses abgelegene Tal im Norden des Landes überhaupt verschlagen?

Färber: Ich kann da nur sagen, Gott. Ich bin in den Kosovo-Krieg gekommen und bin über das Land geflogen beim Einflug und habe nur eines gehabt: Das Land braucht Anbetung und Erbarmen. Und eigentlich hat mich ein Fall von Blutrache in den Norden geschlagen. Ich habe erfahren, dass da was war, und es hat mich nicht mehr losgelassen. Und ich denke nach wie vor, man muss da was tun, man muss Zugang zu den Herzen bekommen, dass sie dieses lebensverachtende Element ihrer Kultur einfach wandeln in was Positives, in die Kultur des Lebens.

Und Versöhnung ist dann das letzte Wort in dieser Reihe, aber Hass zerstört ganz viel und, ja, vom Hass zu lassen, andere Möglichkeiten zu finden, nicht zu rächen, andere Wege zu finden miteinander, dass es dieser Rache nicht mehr bedarf.
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