"Wir müssen das Kalte-Kriegs-Denken überwinden“

Volker Rühe im Gespräch mit Ute Welty · 04.05.2012
Nach Einschätzung von Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe verfolgt die Nato keine Zukunftsstrategie und verliert deswegen an Bedeutung. Problematisch sei zum einen, dass das Bündnis Russland nicht vertraue. Zum anderen gebe es in Europa 28 Einzelarmeen, aber keine transnationalen militärischen Strukturen. Das sei teuer und ineffizient.
Ute Welty: Bundeskanzlerin Merkel bekommt heute hohen Besuch: NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen spricht mit der deutschen Regierungschefin über den bevorstehenden NATO-Gipfel in Chicago – und der Themen sind viele: Afghanistan-Abzug, Raketenschild, Rüstungskooperationen. Darüber hinaus mahnt der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe an, grundsätzlich über die Ausrichtung der NATO nachzudenken. Guten Morgen, Herr Rühe!

Volker Rühe: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Sie stellen ganz plakativ die Frage, ob die NATO noch zu retten ist. Was genau lässt Sie daran zweifeln?

Rühe: Sie war mal unglaublich wichtig, von existenzieller Bedeutung, aber sie verliert immer mehr an Bedeutung, und eigentlich hat sie keine Strategie, die trägt für die Zukunft, denn Furcht vor Russland – das ist nicht das, was die NATO im 21. Jahrhundert zusammenhalten wird.

Welty: Dreh- und Angelpunkt, Sie haben es gerade schon angesprochen, ist das Verhältnis der NATO zu Russland, und das leidet angesichts der Auseinandersetzung über den geplanten Raketenabwehrschild, von dem sich jetzt wiederum Russland bedroht fühlt. Erwarten Sie in dieser Frage noch Bewegung aufeinander zu? Die Fronten scheinen sich ja eher zu verhärten.

Rühe: Ich glaube schon, dass da noch Bewegung möglich ist, aber man darf sich nicht gleich in Einzelheiten verlieren. Tatsache ist, dass eigentlich fast alle Länder Europas ihren Platz gefunden haben, auch mit der Öffnung der NATO nach Ostmitteleuropa, die ich ja in den 90er-Jahren auch selbst mit vorangetrieben habe – nur Russland nicht.

Das liegt zum Teil an Russland, was noch nicht ausreichend ein modernes – auch was das politische System angeht, Wirtschaft und Technologie – es liegt aber auch an der NATO, die nicht wirklich offen genug ist für eine Partnerschaft. Russland gehört eigentlich im 21. Jahrhundert zum Westen, aber die NATO guckt nach innen, macht Kompromisse mit ihren Mitgliedern innerhalb des Bündnisses, sie ist nicht wirklich offen, Russland einen Platz im Westen anzubieten im 21. Jahrhundert.

Welty: Sie fordern vom Gipfel in Chicago, die Weichen für eine strategische Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland zu stellen. Wie soll denn diese Zusammenarbeit konkret aussehen?

Rühe: Also, wir können letztlich nicht das entscheiden, was in Russland geschieht, aber wir müssen das bei uns entscheiden, nämlich, dass wir sagen: Wir sind offen für euch. Es gibt ja schon eine Zusammenarbeit, was Afghanistan angeht, aber wir müssen noch das Kalte-Kriegs-Denken überwinden, es gibt noch viel zu viele Nuklearwaffen, und hier muss weiter abgerüstet werden. Die militärischen Strukturen des Kalten Krieges sind noch vielfach geblieben, obwohl die politischen Konflikte, die wir heute mit Russland haben – das ist vielfach ein Echo der Vergangenheit, wenn ich Syrien denke oder auch Libyen.

Aber es ist eigentlich Peanuts, es ist nichts im Vergleich zu den politischen Konflikten, die es im Kalten Krieg gab. Und dadurch verändern wir Russland auch am besten, wenn wir sagen: Wir sind offen. Und diese Signale, die vermisse ich noch bei der NATO.

Welty: Vermissen Sie sie auch bei der Bundeskanzlerin?

Rühe: Na ja, die deutsche Politik ist international also sehr wenig sichtbar, was strategische Einlassungen angeht, findet eigentlich gar nicht statt. Und zum Beispiel was die Raketenabwehr angeht, ist das wirklich eine Chance, wenn man endlich zu mehr Vertrauen kommt, hier bündnisähnliche Beziehungen aufzubauen gegen neue Gefahren, die ja Russland genauso treffen wie uns. Und deswegen erwarte ich zum Beispiel eigentlich auch von Deutschland, dass es klar im Bündnis sagt: So etwas kann aus Sicht der Europäer eigentlich nur funktionieren, wenn wir offen sind für eine wirkliche Beteiligung Russlands.

Welty: Sie haben den jüngsten NATO-Einsatz in Libyen angesprochen, er endete mit dem Sturz von Machthaber Gaddafi und erreichte damit doch letztlich sein wenn auch inoffizielles Ziel. Gibt das nicht Anlass zu Hoffnung?

Rühe: Na ja, das Ziel war der Schutz der Bevölkerung.

Welty: Deswegen sagte ich inoffiziell.

Rühe: Aber letztlich war das nicht möglich auch ohne eine Veränderung des Regimes. Aber Deutschland stand ja abseits, und was daran bedenklich ist, ist weniger, dass wir nicht mit Amerika einer Meinung waren als mit den führenden Europäern, den Engländern und den Franzosen. Denn das müssen wir auch lernen: Die Amerikaner werden sich dem Pazifik zuwenden, dort sind auch wirklich die gefährlicheren Konflikte des 21. Jahrhunderts, deswegen ist das auch in unserem Interesse.

Aber das bedeutet, dass Europa, wenn es ein ernst zunehmender Partner der Amerikaner im 21. Jahrhundert sein will, transnationale militärische Strukturen einnehmen muss. Es wird nicht eine europäische Armee geben, weil es nicht eine europäische Regierung gibt, aber wir können auch nicht weiter 28 Armeen und 24 Flotten und was weiß ich wie viele Luftwaffen haben.

Und deswegen haben wir ja auch Vorschläge gemacht, der Admiral Weisser und ich, in dem Text, den wir in "Cicero" veröffentlicht haben, wie man gemeinsam Waffensysteme betreibt. Man begibt sich natürlich in Abhängigkeit und gewinnt neue europäische Fähigkeiten, aber Deutschland muss wissen auch dann, dass es keine deutschen Sonderwege mehr gibt, dass man sich ausklinkt, wie das zum Beispiel auch bei Libyen der Fall war.

Welty: Die Auseinandersetzung um Libyen herum hat ja nicht nur politische Ursachen gehabt, sondern auch finanzielle. Das Geld wird knapper, auch für die Verteidigung, und schon vor seiner Wahl hat der amerikanische Präsident ja deutlich gemacht, dass auch Europa und vor allem auch Deutschland werden liefern müssen. Glauben Sie, dass dieser Druck wächst, auch im Hinblick auf die Wahl im November?

Rühe: Ja, natürlich. Die Amerikaner werden selbst große Einsparungen durchführen, und sie erwarten von uns, dass wir in Europa die Dinge weitgehend selbst regeln und an der Peripherie, etwa im Süden, so stark sind, dass wir gemeinsam mit den Amerikanern auch militärisch handeln können. Aber wir können die Verteidigungshaushalte nicht beliebig ansteigen lassen, und deswegen müssen wir die Ressourcen besser nutzen.

Wir geben ja sehr viel Geld aus, aber wenn man 28 verschiedene Armeen in Europa organisiert, dann ist es eine große Geldverschwendung. Wir sind alle im gleichen Schicksal des Euro, aber was die Sicherheit angeht, leben wir eigentlich vielfach noch im 19. Jahrhundert und haben nicht begriffen, dass die Europäer ihre Ressourcen zusammentun müssen. Deswegen die Vorschläge, gemeinsame Ostseeflotte mit den Polen, mit den Italienern zusammen gemeinsame Abwehrsysteme – und warum muss eigentlich jeder seinen Himmel selbst schützen? Das ist ja Unsinn, das ist altes nationalstaatliches Denken.

Welty: Na ja, also die NATO Response Force klappt ja jetzt nicht so wahnsinnig gut, die schnelle Eingreiftruppe, von der Franz-Josef Jung, einer ihrer Nachfolger, immer so geschwärmt hat.

Rühe: Ja, die steht weitgehend auf dem Papier. Aber ich rede davon, dass die Europäer ihre Ressourcen zusammentun müssen, und das wird letztlich auch die Amerikaner in Europa binden und sie nicht aus Europa vertreiben, denn sie werden nur dann bleiben, wenn wir auch ein ernst zunehmender militärischer Partner sind. Für die Deutschen bedeutet das, dass sie eben dann auch nicht, wenn es ernst wird, einen Sonderweg gehen können.

Welty: Zur Zukunft der NATO der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe. Danke für das Interview in der "Ortszeit"!

Rühe: Gern geschehen!


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