"Wir haben Kinder in Armut"

Moderation: Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler · 17.10.2009
Der Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland, Klaus-Dieter Kottnik, hat einen neuen Kinderregelsatz gefordert. Dieser müsse dem tatsächlichen Bedarf der Kinder in armen Familien gerecht werden, sagte der Diakonie-Präsident.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kottnik, Sie haben der künftigen Regierungskoalition einen sozialpolitischen Brandbrief geschrieben, wenn man das so bezeichnen möchte. Fürchten Sie sich vor Schwarz-Gelb?

Klaus-Dieter Kottnik: Diesen Brief hätten wir an jede neue Koalition geschrieben, weil wir der Überzeugung sind nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir gerade hinter uns haben oder auch noch durchmachen, dass wir an einige Grundfesten, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, erinnern müssen. Und diese eine wichtigste Grundfeste, die für uns als Diakonie wichtig ist, ist die Grundfeste der Solidarität.

Deutschlandradio Kultur: Befürchten Sie, dass die Ärmsten der Armen die Zeche bezahlen müssen, die die Krise der Banken ausgelöst hat?

Klaus-Dieter Kottnik: Es ist ja so, dass die Probleme, die es vor der Finanzkrise gegeben hat, noch lange nicht bewältigt sind. Wir haben ja schon damals aufmerksam gemacht auf die Situation der armen Menschen, der armen Kinder, ihre beruflichen und persönlichen Perspektiven. Diese Probleme sind in gleicher Weise vorhanden. Es besteht die Gefahr, wenn man sich nur mit der finanziellen und wirtschaftlichen Situation dieses Landes beschäftigt, dass man diese Menschen aus dem Blick verliert. Und von daher ist es uns wichtig, doch darauf aufmerksam zu machen, ja deutlich zu unterstreichen, die Probleme vor der Finanzkrise sind da und sie dürfen sich nicht weiter verschärfen, sondern wir müssen sie angehen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man die ersten Reaktionen der Kanzlerin sieht in den Verhandlungen, die wir im Moment erleben, hat man so das Gefühl, als ob sie diese soziale Balance auch aufrechterhalten möchte in einer schwarz-gelben Koalition. Sind sie etwas beruhigt?

Klaus-Dieter Kottnik: Wir haben die Kanzlerin erlebt als eine Frau, die durchaus eine Sensibilität und auch ein Gespür für soziale Fragen hat. Insofern haben wir den Eindruck, dass das, was sie vorher gezeigt hat, auch in der neuen Koalition weitergehen wird.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind ja sehr freimütig. Sie sagen ja auch, dass der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich sehr gut sei. Und dann wiederum sagen Sie, nach innen gerichtet, an die Bundesregierung gesprochen, Sie sind unzufrieden. Ist das nicht ein Widerspruch?

Klaus-Dieter Kottnik: Nein, das ist kein Widerspruch. Ich sagte, wir haben ja noch Probleme im internationalen Vergleich. Wenn ich das mit Ländern in der südlichen Halbkugel vergleiche oder auch mit anderen europäischen Ländern, dann denke ich, wir haben ein gutes Sozialsystem. Wenn ich es vergleiche mit skandinavischen Ländern, dann liegen wir noch weit zurück. Wir haben noch einiges nachzuholen. Und wir haben gesellschaftliche Probleme. Ich sage es hier noch einmal: Wir haben Kinder in Armut. Wir haben arbeitslose Menschen. Wir haben langzeitarbeitslose Menschen. Wir haben Familien, wir haben Alleinerziehende in unserer Gesellschaft, wo erlebt wird, dass in der zweiten und dritten Generation keine Arbeit da ist, wo es keine Tagesstruktur gibt und die Kinder in solcher Umgebung aufwachsen. Diese Probleme müssen wir bewältigen. Diesen Solidargedanken werden wir in allen Zeiten in den Vordergrund rücken. Das ist uns auch in dieser Situation notwendig.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, da gibt's noch einen erheblichen Nachholbedarf, wenn es um die Ärmsten der Armen geht. Wurde da in den letzten Jahren tatsächlich nicht genügend getan?

Klaus-Dieter Kottnik: Es wurde immer wieder etwas getan, aber es wurde nicht genügend getan. Man hat ein bisschen den Satz für die Kinder nach Hartz IV angehoben, von 60 auf 70 Prozent. Man hat ein Schulanfängerpaket verabschiedet. Das sind aber alles nicht die grundsätzlichen Veränderungen, die notwendig sind.

Deutschlandradio Kultur: Das müssen wir doch mal nachfragen. Sie wollen ein gänzlich anderes Sozialsystem oder fanden Sie die Reformen mit der Agenda 2010, was also in den letzten zehn Jahren insgesamt erreicht worden ist, insgesamt richtig?

Klaus-Dieter Kottnik: Wir haben uns zu diesem Grundsatz "Fordern und Fördern" gestellt. Ich würde lieber umgekehrt sagen "Fördern und Fordern". In den letzten Jahren ist aber das Fordern immer mehr in den Vordergrund getreten und das Fördern zurückgestuft worden. Und an der Stelle, denken wir, müssen wir ansetzen. Wir stehen auch zu den Reformen, die es gegeben hat, aber wir wollen, dass diese Reformen den Menschen noch mehr nützen.

Deutschlandradio Kultur: Also, kein Systemwechsel, aber deutlichere Korrekturen als in der Vergangenheit. Nehmen wir mal das Beispiel Kinder, Kindergrundsicherung, Kindergeld. Wo würden Sie den Schwerpunkt setzen, wenn Sie tatsächlich gefragt werden und mit entscheiden könnten?

Klaus-Dieter Kottnik: Wir denken, dass ein neuer Kinderregelsatz entwickelt werden muss, der dem tatsächlichen Bedarf der Kinder, die in armen Familien oder bei alleinerziehenden Eltern in Armut leben, gerecht wird. Der jetzige Unterhalt, der den Kindern zukommt, fördert in keiner Weise die Möglichkeit, dass sie auch in der Bildung Anschluss kriegen. Da muss es mehr Möglichkeiten geben. Da hatten wir früher nach dem Kriege in den ersten Jahren oder nach den ersten Bildungsreformen sehr viel breitere Möglichkeiten, als das heute der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Also wollen Sie mehr Transferleistungen oder Umschichtungen in die Bereiche, wo Sie sagen, da ist das Geld besser angelegt?

Klaus-Dieter Kottnik: Wir wollen Umschichtungen da hin, dass mehr für die Bildung getan wird, Ausbau der Kindertagesstätten nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Wir sind dafür, dass Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen sind. Dafür müssen die Erzieherinnen ausgebildet sein. Dafür muss ausreichendes Personal da sein. Wir stehen ein, dass es notwendig ist, Ganztagesschulen zu haben, Ganztagesbetreuung. Kinder aus armen Verhältnissen haben im Augenblick kaum die Möglichkeiten, zum Beispiel in der Schule am Mittagessen teilzunehmen. Wir brauchen Lernmittelfreiheit. Wir brauchen dieses kostenfreie Mittagessen. Wir brauchen die Möglichkeiten, dass über die Schule hinaus Bildungsangebote auch von diesen Kindern wahrgenommen werden können, dass also Elternbeiträge, die immer wieder notwendig sind, eben nicht aufgebracht werden müssen, sondern dass diese Kinder die Chance haben, sich weiterzuentwickeln.

Deutschlandradio Kultur: Deshalb wird ja wieder über die Erhöhung von Kinderfreibeträgen diskutiert, damit zusammenhängend auch über das Kindergeld. Wäre es vielleicht sinnvoller zu sagen, wir konzentrieren das Geld auf eine soziale Kindergrundsicherung, also für die ärmeren Kinder, wenn wir schon nicht so viel Geld haben zum Ausgeben?

Klaus-Dieter Kottnik: Also, ich hab letztens mit einer Ministerin gesprochen. Und die Ministerin hat gesagt: "Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, dass ich Kindergeld bekomme." - Und ich glaube, es gibt viele Menschen in unserer Gesellschaft, die sehr gut verdienen, die eigentlich ein schlechtes Gewissen damit haben, dass sie Kindergeld bekommen. Und das Geld sollte dahin fließen, wo es notwendig ist, wo es dann den Kindern, die eben in benachteiligten Verhältnissen aufwachsen, mehr Chancen gibt.

Deutschlandradio Kultur: Gilt das generell für die Sozialpolitik? Es wird ja gesagt, wir gehen mit unserer Sozialpolitik über ein Füllhorn und damit auch über den berühmten Mittelstand. Sollte man sagen, seid kritischer mit dem Geld und gebt es nur denjenigen, die wirklich nicht genügend haben?

Klaus-Dieter Kottnik: Genau das ist es, worauf wir aufmerksam machen wollen. Es gibt Menschen, die diese Leistungen nicht benötigen. Es gibt Menschen, die brauchen sehr viel mehr. Kindergeld wird ja zum Beispiel im Augenblick bei Hartz IV abgezogen. Die haben gar nichts davon von diesem Kindergeld. Es ist notwendig, da an der Stelle mehr zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Kindergrundsicherung ja, Kindergeld nicht unbedingt. Das wäre aber doch ein Stück Systemwechsel, oder?

Klaus-Dieter Kottnik: Wenn Sie so wollen, an der Stelle möglicherweise ein Systemwechsel, aber es wäre gerechter für diejenigen, die es brauchen.

Deutschlandradio Kultur: Wie weit würden Sie sich denn dann einklinken in die aktuelle Diskussion, ob man überhaupt eine soziale Grundsicherung braucht? Es gibt verschiedene Modelle, die sich so nennen. Und es gibt auf der anderen Seite das Bürgergeld der FDP. Helfen Ihnen diese Modelle weiter und sagen, ja, das geht in die Richtung diakonischer Arbeit?

Klaus-Dieter Kottnik: Also, wir brauchen eine Grundsicherung für jeden, wo das Existenzminimum eines Menschen festgelegt ist, das er dann auch bekommt. Das Bürgergeld wäre uns nicht ausreichend. Denn in Bezug auf das Bürgergeld wird ja nicht gesagt, was die Menschen an zusätzlichen Hilfen bekommen. Es reicht an vielen Stellen nicht aus, nur den Menschen Geld in die Hand zu geben, sondern sie brauchen auch Unterstützung in sehr vielen sozialen Diensten, die notwendig sind.
Ich komme gerade von der Stadtmission hier in Berlin. Da würde einem obdachlosen Menschen ein Bürgergeld, auch wenn man es abzöge, nicht ausreichen. Sondern ein obdachloser Mensch braucht auch noch Begleitung, nicht nur eine Wohnung zu bekommen, sondern auch psychosoziale Begleitung. All dieses ist nicht beschrieben in Bezug auf ein Bürgergeld. Also, das würde, glaube ich, an einer Stelle etwas Gutes sein, dass die Leistungen aus einer Hand kommen. Heute muss man an sehr unterschiedlichen Stellen seine Leistungen beziehen. Und es ist für viele auch sehr schwierig, da einen Überblick zu behalten, was denn überhaupt an Möglichkeiten da ist. Man würde es aus einer Hand bekommen, aber es ist bei Weitem nicht ausreichend, weil neben der Finanzleistung noch sehr viel weitere Unterstützungen notwendig sind.
Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Ich war vor einiger Zeit in Schwerin in einer Kindertagesstätte. In dieser Kindertagesstätte kam eines Mittags eine Mutter und brachte eine Lauchstange mit und hat zu der Erzieherin gesagt: Was kann ich damit machen? Sie hat kein Kochen gelernt, nichts Vergleichbares. Die Erzieherin hat gesagt, gut, ich zeig Ihnen das, wir machen einen Kochkurs. Und sie hat einen Kochkurs installiert an dieser Kindertagesstätte. Und es haben weitere Mütter an diesem Kochkurs teilgenommen. Heute kommen auch die Omas zu diesem Kochkurs. Es gibt einen Austausch. Es gibt ein Gespräch darüber, wie notwendig es ist, auch eine Tagesstruktur zu haben, einen Rhythmus mit Essen am Morgen, am Mittag und am Abend. Diese Erzieherin hat etwas wahrgenommen als Begleitung über das Geld hinaus. Zu diesen Kochkursen sind auch die Jugendlichen dazugekommen. Dann hat sich gezeigt, dass die Jugendlichen keine adäquate Betreuung haben und es ist eine Jugendbegegnungsstätte mit Sozialarbeit entstanden, die den Jugendlichen hilft, sie begleitet in ihrem familiären Leben und auch im schulischen Leben und von der Schule Zugang zu finden auch zur Arbeit.
Diese Möglichkeiten, die brauchen viele Menschen. Die wären alleine nicht mit Geld auf die Hand nur zu bewerkstelligen.

Deutschlandradio Kultur: Also das, was die Diakonie macht, und seit Jahren ist die Betreuung auch innerhalb von sozial benachteiligten Gruppen, Sie fordern aber auch eine andere Diskussionen für die gesamte Gesellschaft. Und das betrifft die Pflege. Sie sagen: Wir müssen diesen Pflegenotstand, der möglicherweise auf uns zukommt, gesamtgesellschaftlich diskutieren. - Welche Szenarien schweben Ihnen da vor? Warum ist das jetzt so dringend?

Klaus-Dieter Kottnik: Schon heute können nicht mehr alle Stellen besetzt werden, die man besetzen müsste mit entsprechend ausgebildeten Fachkräften. Wir haben ein Bild in unserer Gesellschaft, dass die Arbeit mit pflegebedürftigen Menschen nicht attraktiv sei, weil es möglicherweise zu wenig Aufstiegsmöglichkeiten gibt, weil die Arbeit anstrengend sei. Wir brauchen eine Diskussion über den Wert der zu pflegenden Menschen. Deshalb muss es eine breite Diskussion darüber geben in einer älter werdenden Gesellschaft, in einer Gesellschaft, in der es immer mehr zu pflegende Menschen gibt. Was sind wir bereit für die zu pflegenden Menschen zu tun? Wir sind ja da selber mit gefragt und selber davon betroffen.
Und wenn wir den Wert der zu Pflegenden in den Vordergrund rücken, dann wissen wir auch, dass wir etwas für die, die pflegen, tun müssen, nämlich dass es eine adäquate Personalausstattung geben muss und dass es auch eine adäquate Bezahlung und eine adäquate berufliche Weiterentwicklung für die Menschen, die in der Pflege sind, geben muss. Die Diakonie hat dafür Beispiele entwickelt. Wir haben ein neues Ausbildungskonzept zwischen Krankenpflege, Altenpflege und Heilerziehungspflege mit der Möglichkeit, von einem Beruf in den anderen leicht wechseln zu können, weil man eine gemeinsame Grundausbildung hat, aber auch mit der Möglichkeit aufzusteigen, dass man von der Situation des Angelernten bis zum Hochschulstudium ein durchgängiges Ausbildungssystem hat. Das würde die Attraktivität der Pflegeberufe enorm steigern. Und wenn wir dann dazu auch noch gewährleisten, dass tarifgerechte Bezahlung refinanziert wird, dass es einen ordentlichen Verdienst ist, den man bekommt, so wie man das in den skandinavischen Ländern oder in der Schweiz ist, ein ordentlicher Verdienst, den man in der Pflege hat, dann hätten wir eine gute Perspektive.

Deutschlandradio Kultur: Das klingt ja gut. Bloß das Problem ist, wir können es nicht bezahlen. Selbst ein Journalist wie ich, der vielleicht eine gute Rente bekommt, müsste, wenn er in ein Altenheim müsste, seine ganze Rente und vielleicht sogar noch mehr auf den Tisch legen. Wenn also schon denjenigen, denen es gut geht, schwer fällt, überhaupt eine Pflege zu bezahlen, sei es für Angehörige oder für sich selbst, wie soll das System dann funktionieren?

Klaus-Dieter Kottnik: Das wäre zum Beispiel eine Anhebung der Sätze. Das wäre aber auch eine zusätzliche Finanzierung nicht nur durch die Menschen, die arbeiten, sondern auch eine zusätzliche Finanzierung durch Mittel, die Menschen zur Verfügung stehen, die andere Einkünfte haben, als die durch Arbeit erfolgen. Ich denke, es müssten auch zusätzlich Steuermittel dafür zur Verfügung gestellt werden. Es ist eine Frage der Wertschätzung eines Bereiches und dann auch eine Frage der Verteilung.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie tarifgerechte Bezahlung bei Pflegeberufen fordern, ist das ja eine schöne Sache. Andererseits haben Sie seit Monaten ein Problem mit Mitarbeitern, die gerne diese tarifgerechte Bezahlung hätten und teilweise auch versuchen, mit Hilfe der Gewerkschaft diese Löhne einzuklagen. Aber da tun Sie sich schwer.

Klaus-Dieter Kottnik: Die überwiegende Mehrheit der diakonischen Einrichtungen bezahlt nach den in der Diakonie üblichen Tarifen. Und in den neuen Bundesländern liegen diese Tarife oben. Wir sind also dort im Verhältnis, ich finde nicht, dass das ausreichend ist, aber ich finde, dass es im Verhältnis zum Beispiel zu privaten Trägern eine ordentliche Bezahlung ist, weshalb die Diakonie mit ihren Einrichtungen in den neuen Bundesländern auch weniger Probleme hat, Mitarbeitende zu finden, als andere.
Dennoch liegt das Problem ja nicht bei der Diakonie oder bei der Caritas, sondern das Problem liegt daran, dass die tarifgerechte Bezahlung nicht refinanziert wird. Die Pflegekassen sind bisher nicht in der Lage und nicht willens, die Tarife zu berücksichtigen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass zum Beispiel im Sozialgesetzbuch XI. eine Paragraphenveränderung eingeführt wird, dass bei Pflegesatzverhandlungen auch der geltende Tarif berücksichtigt werden muss.

Deutschlandradio Kultur: Aber dann schließt sich doch der Kreis. Sie sind für die Ärmsten der Armen tätig und dann machen es diakonische Einrichtungen, dass sie besonders einfache Dienste ausgründen und unter einen anderen billigeren Tarifvertrag stellen, immer unter dem Verdacht und auch unter dem öffentlichen Vorwurf, sie würden Mindestlöhne der alten Tarifvertragswerke unterbieten.

Klaus-Dieter Kottnik: Das ist ein Vorwurf, der aber nicht stimmt. Ausgründungen finden statt in den Servicebereichen. Und die Einrichtungen, die ich kenne, wenden in diesen Servicebereichen, also in hauswirtschaftlichen Bereichen und den Handwerksbetrieben, die es an den Einrichtungen gibt, in den Reinigungsbetrieben, einen Tarif an, der sonst gesellschaftlich üblich ist, nämlich den Tarif Nahrung Genuss Gaststätten. Also, das heißt, einen gültigen Tarif. Ich kenne keine Einrichtung, die darunter liegt.
Schauen Sie in öffentliche Einrichtungen hinein. In diesen Einrichtungen haben schon vorher Ausgründungen stattgefunden, bevor es in der Diakonie stattgefunden hat. Viele diakonische Einrichtungen haben nur auf einen Zwang reagiert, um ihre Arbeit weitermachen zu können. Die Alternative wäre ja gewesen, man hätte diese Bereiche selber aufgelöst, gar nicht mehr selber betrieben und andere Servicegesellschaften reingeholt. Ich habe festgestellt, dass in der Servicegesellschaft, die wir hatten, eine gute Atmosphäre bestand und die Mitarbeitenden dort auch gern gearbeitet haben.
Das ändert nichts daran, dass ich das eigentlich nicht haben möchte. Wenn Sie aber in einem Pflegesatz für den Teil Kost und Logis eben nur das refinanziert bekommen, was Nahrung Genuss Gaststätten ohne diese Zusatzaltersversorgung ausmacht, dann können Sie doch gar nicht anders, als so zu reagieren. Das ist das Problem.

Deutschlandradio Kultur: Und trotzdem streiten Sie sich beispielsweise mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di um tarifgerechte Bezahlung. Die zumindest sagen, wir brauchen eine Anpassung der kirchlichen und der öffentlichen tariflichen Strukturen. Da sind Sie aber noch weit entfernt von.

Klaus-Dieter Kottnik: Bei uns kommen noch andere Dinge dazu, die im Tarifwerk des öffentlichen Dienstes nicht vorhanden sind, zum Beispiel ein Familienzuschlag, also eine Berücksichtigung der Familiensituation im Tarif. Man muss die Tarife wirklich miteinander vergleichen. Und ich halte es für unfair, zu sagen, dass in der Diakonie schlechter bezahlt wird, weil das einfach nicht dem Vergleich der beiden Tarife miteinander standhält.
Ich bedaure es außerordentlich, dass die Gewerkschaften sich so eingeschossen haben auf die Diakonie. Mir läge sehr viel mehr daran, dass wir als Diakonie, als Kirche und Gewerkschaften in Bezug auf die großen gesellschaftlichen Fragen, die wir schon in unserem Gespräch miteinander angesprochen haben, zusammenarbeiten würden. Und mir läge sehr viel daran, dass die Gewerkschaften auch verstehen, was der Hintergrund unserer Art und Weise, Tarifkonflikte auszutragen, ist. Wir verstehen uns als Diakonie als Teil der Kirche. Wir sind Teil der Kirche. Und wir können uns nicht vorstellen, dass wir unsere Konflikte, die wir zwischen Leitenden und Mitarbeitenden haben, auf der Schulter von betroffenen Menschen austragen. Wir können uns deshalb nicht vorstellen, dass es Streik und Aussperrung bei uns gibt. Das haut nicht hin mit unserem Grundverständnis des Dienstes, des gemeinsamen Dienstes am Menschen, dem die Leitung genauso verpflichtet ist wie der Mitarbeitende oder die Mitarbeitende am Krankenbett oder in der Kindertagesstätte.
Im Übrigen hat die arbeitsrechtliche Kommission auf Bundesebene ihr Gespräch wieder miteinander begonnen. Und ich bin voller Hoffnung, dass es in diesem Jahr noch einen Abschluss geben wird, der beide Seiten befriedigt. Das ist unsere Art und Weise des Umgangs miteinander, die der Kommunikation. Und dann im Letzten brauchen wir dann eine von beiden anerkannte objektive autonome Schlichtung.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben unser Gespräch dabei begonnen, dass es vielleicht sinnvoll sein mag, dass die Gesellschaft ihre Mittel konzentriert für die Ärmsten der Armen. Müsste nicht auch die Diakonie eine Aufgabenkritik machen und sagen, wir gehen in die sozialen Brennpunkte, dort, wo die Gesellschaft, derzeit ihre Konflikte am stärksten sieht?

Klaus-Dieter Kottnik: Sind wir dort nicht?

Deutschlandradio Kultur: Ist die Diakonie beispielsweise dann in der Hauptschule, in der Ganztagsschule, im Freizeitangebot, das heißt, dort, wo - man nennt es mit dem modernen Wort - der Campus gebildet wird für die Jugendarbeit in schwierigen Bezirken?

Klaus-Dieter Kottnik: Ein Projekt, das wir als Diakonisches Werk sehr fördern, ist das Projekt "Soziale Stadt", nämlich das Zusammenspiel von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden, wo wir dazu anregen, dass Kirchengemeinden sich als die sozialen Akteure für ihren Stadtteil, für ihren Stadtbezirk oder für ihr Dorf verstehen und dort alles Know-how zusammenfließt, was an Notwendigkeiten für den Stadtbezirk und diesen Stadtteil oder die Gemeinde vorhanden ist. Da gibt es wunderbare Konzepte.
In Neuruppin gibt es ein solches Konzept, in Wolfen, hier in Berlin gibt es solche Konzepte, auch in Süddeutschland. Wir haben dieses Konzept sozusagen als eines der allerwichtigsten, das wir von Seiten des Diakonischen Werkes der EKD fördern, auf unsere Fahnen geschrieben und haben jetzt zusammen mit der EKD, also mit der Evangelischen Kirche in Deutschland, eine Arbeitsgruppe gebildet, die das sozusagen in alle Gemeinden runterbrechen soll. Auf diese Art und Weise wird bewerkstelligt, dass Diakonie und Kirche eben mitten in der Gesellschaft präsent sind.
Es gibt schon sehr viele Initiativen - hier in Berlin eine wunderbare Initiative an einer Kirchengemeinde in einer Straße, in der junge Frauen, die sich ihr Geld durch Prostitution verdienen, weil sie drogenabhängig sind. Die Kirchengemeinde hat ihre Türen geöffnet. Die jungen Frauen können dort hinkommen. Sie können dort ihre Heroinspritzen tauschen, neue bekommen, damit sie sich nicht infizieren. Sie haben dort Ansprechpartner. Sie haben dort sogar eine medizinische Betreuung. Da ist ehrenamtliches Engagement von Seiten der Charité da. Diese Gemeinde versuchen wir gerade zu unterstützen, dass sie mit dem Stadtteilmanagement zusammen sich weiterentwickelt und die Verantwortung für den gesamten Stadtteil wahrnimmt.

Deutschlandradio Kultur: Aber wir haben manche Stadtteile in Berlin, auch anderswo, mit sehr hohem Migrationsanteil. Haben da Kirchengemeinden im klassischen Sinne überhaupt noch eine Funktion? Kommen die Leute da überhaupt hin? Sind Sie überhaupt noch Ansprechpartner?

Klaus-Dieter Kottnik: Wenn Sie Kirchengemeinde ausschließlich als die klassische Kirchengemeinde sehen, in der sich Menschen zum Gottesdienst und zur Andacht oder zur Bibelstunde treffen oder vielleicht noch zum Frauenkreis, dann ist das nicht mehr die Kirchengemeinde alleine. Aber nehmen wir Neukölln. In Neukölln ist es so, dass die Kirchengemeinde sehr eng mit dem Diakonischen Werk zusammenarbeitet, in diesem Diakonischen Werk sehr viele Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund sind. In diesem Stadtteil Neukölln gibt es auch die "Stadtteilmütter", vom Diakonischen Werk und der Kirchengemeinde gemeinsam unterstützt. "Stadtteilmütter" sind Mütter mit Migrationshintergrund, fast alle mit einem religiösen Hintergrund, der moslemisch ist, die angeleitet werden durch die Fachkräfte aus dem Diakonischen Werk, mit Familien, mit Müttern im Stadtteil in Kontakt zu kommen und sie darin zu unterstützen, die sozialen Dienstleistungen, die es gibt, die Schulen zu verstehen, Arztbesuche zu organisieren, die Familien zu unterstützen. Das ist etwas, was von der Diakonie und der Kirchengemeinde in diesem Stadtteil ausgeht. Und Neukölln könnte sich gar nicht vorstellen, ohne die Diakonie zu existieren.

Deutschlandradio Kultur: Bloß wo liegt denn das Problem, wenn Sie sagen, Sie haben ja diese Modelle, dass die Gesellschaft das Gefühl hat, sie habe den Kontakt zur sogenannten "Unterschicht" verloren, da führen keine Wege mehr hinein und auch keine Wege mehr heraus?

Klaus-Dieter Kottnik: Eines unserer Probleme ist, uns fehlen die Brücken von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen gesellschaftlichen Gruppe. Wir haben, so wie in Neukölln oder vielleicht in Moabit, doch auch Stadtteile, die sehr auf sich konzentriert sind. Und wir haben an wenigen Stellen die Möglichkeit, dass es Begegnungen gibt mit den Menschen.
Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: In Esslingen hat das Diakonische Werk organisiert, dass zum Beispiel Konfirmanden mit obdachlosen Menschen Kontakt bekommen haben, ihnen geholfen haben beim Wohnungseinrichten, beim Renovieren. Die Eltern sind damit in Kontakt gekommen. Zunächst waren sie abwehrend. Die Eltern haben Kontakt zu obdachlosen Menschen bekommen. Es war die Erfahrung, ja, das sind ja Menschen wie wir. Und es ist ein Verständnis dafür gewesen. Und auf der Grundlage dieses Verständnisses wird auch eingesehen, dass gesellschaftlich und auch finanziell für diese Menschen etwas getan werden muss.
Da haben wir noch einen Entwicklungsbedarf an der Stelle. Wir können das noch weiter ausbauen. Und da gibt es gute Modelle, die begangen werden.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie mehrere schöne Beispiele aus der praktischen Arbeit erzählt. Seit drei Jahren sind Sie aber Lobbyist, wenn man das so sagen darf. Sehnen Sie sich manchmal zurück nach den Wurzeln, dass Sie sagen, vor Ort zu arbeiten, das gibt mehr Befriedigung?

Klaus-Dieter Kottnik: Als ich ein Unternehmen der Behindertenhilfe in Süddeutschland geleitet habe, habe ich immer wieder auf die geschaut, was machen die denn in Berlin, dass die Möglichkeiten für die Arbeit vor Ort noch weiter verbessert wird. Insofern habe ich sozusagen mit diesem praktischen Hintergrund doch auch einen Blickwinkel auf die Politik. Ich halte es für sehr notwendig, dass wir als Diakonie auch immer deutlicher machen, wo in unserer Gesellschaft der Schuh drückt. Mir liegt nach wie vor daran, sehr viel Basiskontakt zu haben. Ich bin auch häufig in diakonischen Einrichtungen zu Besuch, bin im Gespräch mit Mitarbeitenden vor Ort, sodass ich also auch ein Gefühl dafür habe, wie sieht es aus. Aber es müssen beide Aufgaben gemacht werden. Es muss die Arbeit vor Ort gemacht werden. Und die Arbeit vor Ort ist eben auch davon abhängig, dass die Politik stimmt. Und das ist jetzt meine Aufgabe, die ich gerne tue.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie denn schon was erreicht in Berlin?

Klaus-Dieter Kottnik: Ich denke, dass das Thema Kinderregelsätze bei Hartz IV ein Thema ist, das jetzt auch vom Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober behandelt wird, geht sehr stark auf unsere Initiativen zurück. Das Bundesverfassungsgericht hat auch Ausarbeitungen in unserem Hause für seine Argumentation mit herangezogen. Wir sind mal gespannt, was letztlich daraus wird. Wir haben gemeinsam mit den anderen Verbänden dafür Sorge getragen, dass zum Beispiel das Thema "arme Kinder" auch in der letzten Bundesregierung sehr deutlich gesehen wurde, noch nicht hinreichend behandelt. Wir sehen es auch als einen Erfolg unserer Arbeit an, dass in der letzten Bundesregierung der Ausbau der Kindertagesstätten so in den Vordergrund gerückt wurde. Ich könnte noch weitere Beispiele nennen, aber das sind so zwei, die mich sehr zufrieden machen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Kottnik, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Klaus-Dieter Kottnik: Ich danke Ihnen auch!