Wiederentdeckung

Irgendwo muss doch das Paradies sein

Reges Treiben auf dem Potsdamer Platz in der deutschen Hauptstadt Berlin im Jahre 1924.
Der Berliner Potsdamer Platz 1924 © picture alliance / dpa / Foto: Ullstein
Von Manuela Reichart  · 06.08.2014
Lili Grüns Gedichte und Geschichten über die berufstätige Damenwelt der 20er- und 30er-Jahre in Berlin und Wien sind ein Genuss zu lesen. Die österreichisch-jüdische Autorin wurde nur 38 Jahre alt. Ein Glück, dass diese vollständig vergessene Autorin wiederentdeckt wurde.
Die Liebe und die Männer, der Beruf und die Träume: Die österreichisch-jüdische Autorin schrieb Geschichten und Gedichte über die modernen Frauen der 1920- und 30er-Jahre in Berlin und Wien.
Irgendwo muss es ihn doch geben den "Mädchenhimmel", das Paradies, das sich Lily Grün im gleichnamigen Gedicht ausmalt, für die, "die wir den ganzen Tag dienen/ in dunklen Büros bei den Schreibmaschinen". In Amerika nannte man sie Flapper, die modernen jungen Frauen in den Großstädten der Zwischenkriegsjahre. Sie trugen Bubikopf und kurze Röcke, sie verdienten ihr eigenes Geld - mussten das tun. Und sie träumten doch von einem starken Mann und von der richtigen und dauernden Liebe, aber "die ist vergänglich,/ und die Treue ist nur ein Begriff".
Die Protagonistinnen sind selbstbewusst und traurig
Man denkt bei der Lektüre dieser Gedichte und kurzen Geschichten, die fast immer aus einer weiblichen Perspektive geschrieben sind, an Mascha Kaleko: Ein ähnlich frech-ironischer wie melancholisch-sentimentaler Großstadtton. Die Protagonistinnen sind selbstbewusst und traurig, hoffnungsvoll und abgeklärt zugleich. Man kann ihnen nichts vormachen (und Mann schon gar nicht), aber trotzdem träumen sie davon, dass die Alltagssorgen und die Schulden sich in Luft auflösen ("Du bist groß und ich bin klein/ laß uns ein bißchen kitschig sein") und am schönsten wäre es, einer wie Willy Fritsch käme des Wegs.
Über Lili Grün, 1942 "durch die Nationalsozialisten im Alter von nur 38 Jahren gewaltsam zu Tode gekommen", gibt es nur wenige biografische Zeugnisse. Im kenntnisreichen Nachwort beschreibt die Herausgeberin den Lebensweg der begabten jungen Wienerin. Sie macht eine Ausbildung zur Kontoristin, erfüllt den Wunsch des Vaters nach einem Brotberuf und nimmt Schauspielunterricht. In der Weltwirtschaftskrise geht sie hoffnungsfroh nach Berlin, aber da gibt es ebenso viele arbeitslose Schauspielerinnen wie in Wien. Sie kommt nicht an, hat kein Glück, kriegt kein festes Engagement.
Sie entkommt den Nazis nicht
Kurze Zeit tritt sie mit der Kabarettgruppe "Die Brücke" auf – für viel zu wenig Geld. Sie beginnt zu schreiben, veröffentlicht Texte in Zeitungen und Zeitschriften, findet Anerkennung und einen Verlag für ihre ersten beiden Romane (die auch im Berliner Aviva Verlag neu herausgekommen sind). Später wird sie krank, hat kein Geld, geht zurück nach Wien, versucht in Paris zu überleben, ist auf Unterstützung angewiesen und entkommt den Nazis nicht.
Dass die vollständig vergessene Autorin jetzt wieder entdeckt werden kann (durch einen Zufall und das große Engagement der Herausgeberin Anke Heimberg), das ist ganz wunderbar, denn mit ihren Texte versinkt man nicht nur in der Zeit zwischen den Kriegen, man lernt vor allem eine zu Unrecht vergessene literarische Schwester von Autoren wie Irmgard Keun oder Erich Kästner kennen. Man liest diese Gedichte und Miniaturgeschichten mit Vergnügen und Bewunderung und verfällt augenblicklich der sachlichen Melancholie: "Wenn ein Wunder geschieht, muss es bald geschehen. Nächste Woche ist es vielleicht schon zu spät."

Lili Grün: Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten
gesammelt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg,
Aviva Verlag, Berlin, 2014
188 Seiten, 18,00 Euro