Wie viel Wirtschaft in der Schule?

Von Peter Köpf · 09.10.2008
Hand aufs Herz: Verstehen Sie, wie die Finanzkrise entstanden ist? Welche Instrumente die Kreativen an der Wall Street und in London da entwickelt haben? Und weshalb das Kartenhaus nun zusammenbricht? Falls auch Sie das alles nicht durchschauen, liegt das daran, dass wir an unseren Schulen keinen angemessenen Wirtschaftsunterricht haben. Das soll sich ändern.
Ökonomie soll für alle weiterführenden Schulen "obligatorisch" werden, forderte kürzlich Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Darüber will er auf dem sogenannten Bildungsgipfel am 22. Oktober in Dresden mit den anderen Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin reden.

Auch Michael Glos ist dafür, "dass das Fach Wirtschaft in die Schule kommt". Es sei "mehr Wissen um die Finanzmärkte nötig", sagte der Bundeswirtschaftsminister am Sonntag bei Anne Will einem von Bank-Experten schlecht beratenen Anleger, der mit Papieren von Lehman Brothers 22.000 Euro verloren hatte. Er sei eine riskante Einlage eingegangen, so der Minister, "und ab da muss man wissen, dass es dafür Sicherungseinrichtungen nicht gibt".

Man kann selbstverständlich gar nicht gegen mehr Wirtschaftsunterricht sein, wenn dadurch künftig solche Desaster vermieden werden; wenn der kleine Mann auf dem Finanzmarktplatz mutig den großen Raubtieren entgegentritt; wenn er dafür sorgt, dass wieder die Politik die Wirtschaft kontrolliert statt deren Büttel zu sein.

Aber die deutschen Unternehmer, ihre Verbände und Stiftungen, die sich seit Jahren bemühen, bei den Schulen einen Fuß in die Tür zu bekommen, haben ihre eigenen Ziele:
Längst betreiben Kinder in sogenannten Schülerfirmen Coffeeshops oder füllen Coca-Cola- und Süßigkeitenautomaten. So sollen sie lernen, wie ein Unternehmen funktioniert. In Baden-Württemberg gingen Schüler sogar als "Vertreter" der Automatenfirma an andere Schulen, um das Geschäftsmodell weiter zu verbreiten. Bei Erfolg gab’s Provision.

Wenn ein Weltmarktführer massenhaft PCs verschenkt, dann hat das vielleicht mit Altruismus zu tun, ganz sicher aber mit dem Kalkül, dass Kinder, die mit seinen Programmen vertraut sind, diese auch künftig nutzen und kaufen werden.

Verbände wie die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft stellen den klammen Schulen Unterrichtsmaterial zur Verfügung, um den Kindern "interessante Einblicke in die technischen Möglichkeiten der Zukunft" zu schenken. Da fliegen die Kinder dann mit einem Außerirdischen zu "Baumwollfeldern, auf denen die Baumwolle bereits gestreift wächst" – ein Hurra auf die Gentechnik. Außerdem erfahren die Kinder, wie eine Magnetschwebebahn funktioniert. Gesponsert haben das Projekt auch Firmen, die an der Magnetschwebebahn arbeiteten.

Das Deutsche Aktieninstitut, dessen Anliegen "die Stärkung der Aktienakzeptanz" ist, hat ganze Unterrichtseinheiten ausgearbeitet. Unter den Themen: "Geldanlage und Vermögensbildung des privaten Haushalts". Buchempfehlungen stammen aus dem eigenen Haus, etwa: "Deutschland braucht die Aktie."

Die IHK Hamburg plädierte für "praktische Aufgabenstellungen aus der beruflichen Praxis": beispielsweise "die Erstellung kurzer, aussagekräftiger Berichte, die Behandlung kaufmännischer oder gewerblich-technischer Sachverhalte sowie das Verfassen englischer Geschäftsbriefe".

Daraus ergibt sich die Frage: Wenn mehr Wirtschaft rein soll in die Schule, was soll dann raus?

Bereitet Musikunterricht auf die Wirtschafts- und Arbeitswelt vor? Bleibt noch Zeit für Malerei und andere Künste? Wer liest Schiller und Goethe, wenn die Performance von Aktienfonds erörtert werden muss? Wen interessiert noch Geschichte, wenn die Zukunft auf dem Spiel steht? Sport? Wird in die Freizeit verlegt oder fällt ganz aus.

Andererseits ließe sich die Liste der "nützlichen" Fächer erweitern: Wäre nicht vergleichende Religionskunde angebracht? Wie wäre es angesichts von Volkskrankheiten wie Ernährungsstörungen und Übergewicht mit Gesundheitslehre? Und wäre nicht Kochen ein wirklich praxisorientierter Unterricht – als Gegenprogramm zum Mikrowellen-, Tiefkühl- und Whopperessen?

Doch die Wirtschaft hat andere Ziele: "Zu viele Schulen und Hochschulen bilden am Arbeitsmarkt vorbei aus", klagte schon 2001 der Präsident des Bundesverband Mittelständische Wirtschaft (BVMW), Mario Ohoven. Er wünscht "eine enge Verzahnung zwischen den Bildungs- und den Beschäftigungssystemen, um Deutschland in der Einheit von Wirtschafts- und Bildungsstandort für die Zukunft fit zu machen". In erstaunlicher Offenheit erklärt der Verband: "Die Unternehmer haben wie keine andere Gruppe in Deutschland einen Überblick über die tatsächliche Leistungskraft des Bildungssystems, denn sie sind die Abnehmer seiner Produkte."

Früher waren Kinder Kinder. Die Schule war eine Schule fürs Leben, keine Berufsschule. Wohin es führt, wenn der Deus oeconomicus die Schule okkupiert, zeigt ein Beispiel aus den USA: In Texas schickten Lehrer einen Neunjährigen nach Hause, weil er am Coca-Cola-Tag seiner Schule ein Pepsi-Cola-Hemd angezogen hatte.

Die Finanzmärkte müssen sich selber retten. Wer amerikanische Verhältnisse vermeiden möchte, für den sind jetzt die Schulen der richtige Ort, sich einzumischen.

Peter Köpf ist stellvertretender Chefredakteur von "The German Times" und "The Atlantic Times". Er schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Hilfe, ich werde konservativ. Die Zeiten ändern sich – meine Überzeugungen nicht". Mehr: www.denk-bar.de