"Wer kein Träumer ist, kann auch nach Hause gehen"

Ekkehart Krippendorff im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.12.2009
Ekkehart Krippendorff, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, wirbt für einen kulturellen Blick auf das Politische. Es gehe darum, Politik von Verkrustungen zu befreien, sagte Krippendorff.
Joachim Scholl: Ekkehart Krippendorff ist seit Jahrzehnten eine Instanz der Politikwissenschaft. Als ehemaliger Professor an der Freien Universität Berlin, Verfasser zahlreicher, bedeutender Schriften hat er Politik stets als Humanum begriffen, als kritische Kultur, die mehr ist und mehr sein muss als nur das Spiel um Herrschaft, Macht und Einfluss. "Die Kultur des Politischen" heißt jetzt auch sein neuestes Buch, ein Buch, das Politik neu zu denken versucht – aus dem Geist der Kultur. Ekkehart Krippendorf, willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Ekkehart Krippendorff: Vielen Dank!

Scholl: Sie gehen in Ihrem Buch, Herr Krippendorff, zurück zu den Urvätern der Demokratie, zur Polis des antiken Griechenlands, und beschreiben die ungeheure Entdeckung dieses neuen politischen Denkens, die Abkehr von autokratischer Herrschaft hin zur Entscheidung freier Bürger. War es für Sie an der Zeit, uns daran mal wieder zu erinnern?

Krippendorff: Das tue ich schon seit Längerem, also nicht erst seit jetzt. Wann ich das entdeckt habe, dass man zurückgehen muss zu diesem griechischen Verständnis, das heißt, der Erfindung der Politik, könnte ich gar nicht genau sagen. Aber es beschäftigt mich seit sehr Langem, und je mehr ich mich da hineinbegebe, umso aufregender wird es, sowohl der Vorgang selber, im klassischen Griechenland, als auch die Kritik, die man von daher üben muss an dem, was Politik inzwischen geworden ist oder zu dem Politik geworden ist, also Rückerinnerung eigentlich an die Quellen und die Ursprünge.

Scholl: Die Theaterbühne war den alten Griechen eine so selbstverständliche Referenz wie die Agora, der Versammlungsort der Polis. Sie bringen auf dem Weg in die Moderne Shakespeare, Goethe, Mozart ins Spiel. Was können denn diese kulturellen Giganten für ein neues Verständnis von Politik leisten?

Krippendorff: Es ist eigentlich nicht ein neues Verständnis von Politik, sondern es geht darum, Politik sozusagen zu befreien von den Verkrustungen, von den Verkrustungen, Verengungen, die eigentlich schon im klassischen Griechenland angefangen haben, muss man dazu sagen, mit der frühen Figur des Thukydides, der uns alle gelehrt hat: Politik hat nur was mit Macht zu tun. Und diese Verengung und Verkrustung hat ja, um ans Ende zu kommen, damit zu tun, warum den meisten Menschen Politik inzwischen so ein unerfreuliches Tätigkeitsgebiet ist. Die Politikverdrossenheit, von der wir zu Recht sprechen, hat etwas zu tun damit, dass die Politik verkommen ist zu diesem reinen Machtspiel von Leuten, die eigentlich keine Qualifikation dafür haben.

Scholl: Ihre Kritik geht auch immer wieder auf den Begriff der Realpolitik zurück, also der nüchternen Durchsetzung von Interessen. Sie wenden sich vehement gegen diesen Primat und sehen darin eine Logik der Unvernunft. Was ist daran so unvernünftig? Bismarck hätte dazu wohl gesagt: Na, na, mein lieber Krippendorff!

Krippendorff: Nein, die Logik der Unvernunft heißt, dass die Politik in der Tat ihrer eigenen Logik folgt. Aber es ist eine Logik, die losgelöst ist von den Bedürfnissen und den Pflichten, die jemand, der öffentliche Verantwortung hat für die Gemeinschaft, sondern wird … verselbstständigt sich zu diesem Spiel der Macht.

Wir wissen ja, jeden Morgen, wenn wir die Zeitung aufschlagen, wissen wir, dass … jede Bemerkung, die irgendjemand macht zurzeit ist gefärbt von spezifischen Wahl- oder Öffentlichkeitsinteressen. Das heißt, es ist gar nicht so gemeint, nie so gemeint, das hat man inzwischen auch gemerkt, weshalb die Leute alle wissen: In der Politik wird eigentlich nur gelogen.

Ob wir jetzt nun die letzten Wahlen nehmen und die Wahlversprechungen wegen Steuervergünstigungen et cetera, überall wissen wir: Es wird nicht so gemeint. Und das führt dazu oder hat dazu geführt, dass die Politik ein so auch unattraktives Feld geworden ist für ernsthafte Menschen. Es gehen zu wenig gute Leute eigentlich noch in die Politik.

Scholl: Was heißt das eigentlich für den modernen Politiker, der sich in den komplexen Machtverhältnissen, Interessenlagen unserer Zeit behaupten muss? Was sagen Sie so einem, wenn Sie sagen, ja, wir brauchen eigentlich ein neues Politikverständnis, müssen uns wieder erinnern, dass Politik eine Kultur des Miteinanders ist, dass es hier um den Bürger geht, um die Selbstbestimmung, die Mitbestimmung?

Krippendorff: Also, der Politiker im konkreten Sinne ist eigentlich nicht mein Ansprechpartner. Mit dem möchte ich im Moment nichts zu tun haben. Sie interessieren mich nicht. Mich interessieren die Menschen, die die Opfer der Politik sind und denen man sagen muss oder denen ich sagen möchte: Nehmt sie zwar sehr ernst, aber nehmt sie nicht ernst in dem, was sie sagen, sondern nehmt euch selber ernst, ernster.

Das heißt, diese Politik, die angefangen hat mit dem schönen Wort der Autonomie, der Selbstbestimmung, dass man das wieder entdeckt, es geht um dich und nicht um andere, die dich fremd bestimmen. Und dazu hilft eigentlich auch große Literatur, hilft die Musik, hilft die Kunst im Allgemeinen, die alle auch sich darum dreht um diese Autonomie des Einzelnen zu füllen mit neuer Substanz.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Politologen Ekkehart Krippendorff, sein neues Buch heißt "Die Kultur des Politischen". "Der Nutzen ist das große Ideal der Zeit, dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen sollen". Das schreibt Schiller und beklagt, dass die Kunst hier kein Gewicht mehr hat, wo doch das – noch einmal Zitat – "vollkommenste aller Kunstwerke der Bau einer wahren politischen Freiheit" sei. Sie, Herr Krippendorff, zitieren und kontrastieren diesen Satz ausgerechnet mit dem Freiheitsverständnis von George W. Bush. Was sollen, was können wir denn daraus lernen?

Krippendorff: Wir können daraus lernen, dass der Begriff der Freiheit im Munde von der politischen Klasse verbraucht und vernutzt wird, und dass wir ihn sozusagen wieder blank putzen müssen und uns klar darüber werden müssen, wenn wir von Freiheit reden, was eigentlich damit gemeint ist.

Und das ist in den Schillerschen Worten ein hoher Anspruch, Freiheit ist nicht einfach, du kannst machen und tun, was du willst oder Herr Bush, der erklärt, also Freiheit ist die Freiheit des Marktes, sondern Freiheit ist eine, wenn ich so sagen darf, eine spirituelle Kategorie, eine geistige Kategorie, eine Forderung, die wir an uns selber stellen müssen. Und die Freiheit, von der Schiller spricht, ist die innere Freiheit des Menschen, die ihm die Autonomie dann auch gibt, selber auch Verantwortung zu übernehmen.

Freiheit heißt in meinem Verständnis oder in diesem Schillerschen Verständnis, die eigenen Interessen zurückstellen zugunsten des Ganzen, zugunsten der Gemeinschaft. Gehe ich in die Politik, gehe ich in eine öffentliche Verantwortung, um meiner eigenen Eitelkeit zu frönen, um Macht auszuüben und anderen diktieren zu können, um in den Schlagzeilen der Zeitungen zu sein? Oder gehe ich hin, um zu dienen? Und dienen ist auch, wenn man so will, eine Weise des Freiheit-Seins.

Scholl: Lassen Sie uns noch mal auf diesen Begriff der Realpolitik zurückkommen, Herr Krippendorff. In diesen Tagen lässt sich ein realpolitischer Übertrag glaube ich ganz gut leisten: Wir haben die Klimakonferenz in Kopenhagen. 192 Staaten, allen ist das Problem deutlich und bewusst, es geht um die Rettung der Welt, nichts weniger. Alle verfolgen das eine auch politische Ziel: die Reduktion der CO2-Emissionen. Das ist doch Realpolitik im Dienste der Menschheit und auch der globalen Kultur.

Krippendorff: Ja, natürlich, aber diese Klimakonferenz war ja überfällig und dringend nötig. Aber wenn wir dann genau hinschauen, haben wir genau dieses Syndrom, dass sie sagen: Es ist zwar richtig und nötig, wir müssen was tun, aber meine Interessen sind diese und das ist zu teuer, und da verlieren wir diese Arbeitsplätze und jene Arbeitsplätze – jeder hat dann Ausflüchte, warum er selber keine Opfer, in Anführungsstrichen, für die Gemeinschaft, in diesem Falle für die Menschheit, bringen will.

Und insofern ist das ein Exerzitium, dieses Kopenhagen, über die Heuchelei, die in der ganzen Politik heute drin steckt: Keiner sagt, ich bringe folgendes Opfer, was gar kein Opfer ist, weil wir langfristig natürlich dafür bezahlen müssen beziehungsweise es sich langfristig auszahlt, endlich etwas zu tun.

Aber die Kurzsichtigkeit, mit der gerade jetzt wieder auch Obamas Initiative, wie soll man sagen, womit man reagiert hat in den USA … da heißt es, ja, das ist zwar ganz schön, aber es kostet Arbeitsplätze, es ist zu teuer, wir können uns das nicht leisten und so, heißt wieder mal: Das Ganze wird zurückgestellt zugunsten der Partikularinteresse oder zugunsten der Politik.

Scholl: Sie haben auch in Ihrer aktiven Hochschulzeit, Herr Krippendorff, immer für diesen breiteren kulturellen Blick auf das Politische geworben, haben immer gesagt, in einer Mozart-Oper steckt mehr Politik und mehr Verständnis für unsere Welt als in vielen theoretischen Schriften. Es hat bei Ihren Kollegen relativ wenig gezündet, ganz zu schweigen von den Politikern. Sind Sie ein Träumer, Herr Krippendorff?

Krippendorff: Wer kein Träumer ist, kann auch nach Hause gehen und braucht nichts mehr zu tun. Ohne Träume, ohne Perspektiven, ohne die Hoffnung – in dem Maße wie, man schreibt etwas, das irgendwo ankommt, oder wir sprechen jetzt über meinen Versuch, nachzudenken über Politik, dass es irgendwo hängen bleibt, sagt, da ist vielleicht was Wahres dran –, ohne diese Hoffnung kann man eigentlich nicht sinnvoll weiterarbeiten.

Scholl: Herr Krippendorff, ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Das Buch von Ekkehart Krippendorff "Die Kultur des Politischen" ist im Kulturverlag Kadmos erschienen.