"Wenn das Unterlassen zur Regel wird, ist die Freiheit innerlich ausgehöhlt“

Moderation: Dieter Kassel · 28.09.2006
Dieter Grimm, Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, hält rechtliche Schritte gegen die Absetzung der Mozart-Oper "Idomeneo" für nicht möglich. Klagen könne nur, wer sich persönlich in einem seiner Grundrechte verletzt fühle, sagte Grimm. Nach dem Grundrecht, eine ganz bestimmte Oper zu sehen, werde man aber vergeblich suchen.
Dieter Kassel: Die Aufführung der Mozart-Oper "Idomeneo" in der Inszenierung von Hans Neuenfeld hätte Arbeitsplätze gekostet, weil dann die Konsumenten in den islamischen Ländern deutsche Produkte boykottiert hätten, sagt der Leiter des Mainzer Zentrums für Forschung zur arabischen Welt, Günter Meyer. Die Oper hätte schon 2003, also kurz nach ihrer Uraufführung abgesetzt werden müssen, weil sie ja religiöse Gefühle auch der Christen verletzt, sagt Joachim Hermann von der CSU. Aber von solchen Außenseiter-Meinungen abgesehen, haben sich eigentlich in der letzten zwei Tagen fast alle dahingehend geäußert, dass die Absetzung dieser Oper ein Fehler war und überstürzt geschehen ist.

Das sind allerdings nur alles Meinungsäußerungen, und man könnte denken, man könnte meinen, hätte ich jetzt fast gesagt, dass es um Meinung gar nicht geht: Denn wir haben in Deutschland durchaus ein Recht, das solche Fälle regelt. Das Grundgesetz ist zuständig. Da steht in Artikel 5 Absatz 3: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Über diesen Satz und seine Folgen möchte ich jetzt reden mit Professor Dieter Grimm, er war von 1987 bis 1999 Richter am Verfassungsgericht in Karlsruhe und ist jetzt Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin. Schönen guten Morgen Herr Grimm!

Dieter Grimm: Guten Morgen!

Kassel: Könnte jetzt ganz konkret auf Grund dieses Artikel 5 unseres Grundgesetzes jemand in Karlsruhe klagen gegen die Absetzung dieser Operninszenierung?

Grimm: Daraus würde wohl nichts werden, denn klagen kann, wer in einem seiner Grundrechte vom Staat verletzt ist, und ich glaube, man würde im Grundgesetz vergeblich nach einem Grundrecht suchen, dass jemandem das Recht gibt, eine ganz bestimmte Oper zu sehen.

Kassel: Das heißt, auch zum Beispiel Neuenfeld, der diese Oper inszeniert hat - sie ist auch bereits aufgeführt worden, man muss sagen, es ist nicht viel passiert, ein paar Zuschauer sind rausgegangen, weil sie es eklig fanden, aber mehr nicht - auch der könnte nicht klagen, urheberrechtlich vielleicht, aber nicht vor dem Verfassungsgericht?

Grimm: Nein, es sei denn, eine staatliche Instanz würde der Staatsoper verbieten, dass Neuenfelds Inszenierung gezeigt wird, dann könnte er in der Lage sein, dann wäre er von einem staatlichen Akt betroffen. Aber hier haben wir es mit einer Entscheidung der künstlerischen Institution, also der Oper selber zu tun, ein bestimmtes Stück nicht aufzuführen. Und Neuenfeld ist davon zwar künstlerisch betroffen, aber er ist nicht rechtlich betroffen. Denn er hat seine Inszenierung abgeliefert, die ist jetzt sozusagen "das Eigentum des Opernhauses". Und wie das Opernhaus sich dazu verhält, ist selbst eine Wahrnehmung von künstlerischer Freiheit.

Kassel: Der Grund, weshalb Kirsten Harms, die Intendantin des Opernhauses, darauf verzichten möchte, im Moment ist diese Entscheidung so umstritten, dass sie sich das, glaube ich, gerade wieder überlegt. Aber ursprünglich darauf verzichten wollte, diese Oper in dieser Inszenierung wieder aufzuführen, ist ja Angst vor Gewalt. Wenn nun aber die Oper aufgeführt würde und es sähe sich jetzt jemand, der friedlich reagiert, in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt - auch das steht ja in den deutschen Gesetzen, das Recht auf persönliche Ehre zum Beispiel - was ist dann, welches Gesetz ist das stärker?

Grimm: Das kann man abstrakt überhaupt nicht sagen, weil wir immer davon ausgehen, dass die verschiedenen Grundrechte zwar miteinander in Konflikt geraten können, dass sie aber gleich stark sind. Also auch der Ehrenschutz, der Persönlichkeitsschutz hat den gleichen Rang wie die künstlerische Freiheit. Und deswegen kommt es sehr auf die Umstände des Einzelfalles an.

In solchen Fällen muss abgewogen werden, und man kann nicht abwägen, ohne dass man in die Einzelheiten geht. Deswegen ist eine allgemeine Antwort darauf nicht möglich. Es ist übrigens sehr vorstellbar, um das noch hinzuzufügen, dass sich jemand in seiner persönlichen Ehre durch bestimmte Teile, durch bestimmte Stellen, Inszenierungs-Eigenarten der Oper beeinträchtigt sehen könnte - sehen könnte vielleicht, aber nicht objektiv beeinträchtigt wäre.

Kassel: Nun dürfen wir, glaube ich, unterstellen den Vätern unseres Grundgesetzes, die dieses Gesetz vor über einem halben Jahrhundert geschaffen haben, dass die an diesem Punkt wie an anderen ja nicht unbedingt eine Bedrohung von außen gefürchtet haben damals kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Sondern gerade was die Pressefreiheit, das ist dann der erste Absatz dieses Artikel 5, überhaupt das Recht auf freie Meinungsäußerung angeht, eher verhindern wollten, dass das von innen mal wieder bedroht wird durch die deutsche Politik.

Den Fall haben wir jetzt eigentlich nicht. Wenn auch Politiker, wir erinnern uns an den Karikaturenstreit, deutlich warnen, diese Meinungsfreiheit immer völlig ausnutzen zu wollen, sei falsch, haben da einige gesagt, wenn zum Beispiel das LKA, das Landeskriminalamt Berlin, das jetzt nicht mehr schuld sein möchte, gesagt hat, lieber nicht, ist alles nicht wert. Ist das nicht auch eine Bedrohung der Meinungsfreiheit von innen?

Grimm: Ich denke, dass das LKA, wenn es eine Gefährdungslage gesehen hat, im Recht ist, wenn es diese Gefährdungslage denen mitteilt, die davon potentiell betroffen sein können. Darin sehe ich keine Gefährdung, das ist ein normaler Akt. Und stellen Sie sich den umgekehrten Fall vor: Man wäre nicht gewarnt worden, obwohl man Anlass gehabt hätte, und dann wäre etwas passiert. Dann wäre natürlich die Meinung umgeschlagen und in ganz anderer Weise verlaufen. Nein, da würde ich sagen, das ist keine Gefährdung.

Aber Sie haben natürlich recht, man hat an die Gefährdung durch den eigenen Staat gedacht, man hat nicht an Gefährdungen durch Störer von außen gedacht. Und dafür gilt aber natürlich seit langem eine gute Regel: Der Störer ist nicht im Recht, sondern der Gestörte ist im Recht, und es muss dann der Staat seine Mittel, Polizeimittel zur Verfügung stellen, um denjenigen, der gestört ist, gegen den Störer zu schützen. Also es kann nicht darum gehen, dass man die Störer vor der Kunst in Schutz nimmt, die ihnen vielleicht missfällt, sondern es kann immer nur darum gehen, dass man die Kunst vor den Störern in Schutz nimmt.

Kassel: Das heißt, wenn es notwendig sein sollte, diese Aufführung oder in Zukunft auch andere Theater, Opern und sonstige Aufführungen zu schützen, notfalls mit polizeilichen Maßnahmen, das höre ich schon, dann kommen wieder die Ersten, die sagen, das ist sowieso alles so teuer, es sei alles subventioniert, und jetzt müssen wir auch noch die Polizei dafür bezahlen: Da würden Sie eindeutig sagen, das muss uns die Freiheit der Kunst und Meinungsfreiheit wert sein?

Grimm: Ja, natürlich. Dafür halten wir uns die Polizei, und wenn die Polizei sozusagen kommerzialisiert würde und nur in Anspruch genommen werden dürfte, wenn man dafür zahlt, dann wäre der Sinn der Sache entfallen.

Kassel: Nun ist trotzdem auch die Frage der Panikmache, glaube ich, hier sehr angemessen, denn das eine ist ein Gefährdungspotential. Nach Stand der Dinge ist es so, dass es einen anonymen Anruf bei der Berliner Polizei gegeben hat von einer Frau, die nicht bestreitet, dass sie die Oper auch nicht gesehen hat, sie hat es im Programmheft gesehen. Dann hat es eine Analyse des Gefährdungspotentials durch das Landeskriminalamt gegeben, von denen hat auch niemand die Oper gesehen, konnten sie auch nicht, sie ist nicht aufgeführt worden zu diesem Zeitpunkt. Dann soll aber Eckhart Körting, der Innensenator von Berlin, gesagt haben zur Intendantin der Oper, er fährt jeden Morgen an der Deutschen Oper vorbei, und er möchte nicht irgendwann mal vorbeifahren, und dann steht sie nicht mehr da. Was er gemeint hat, ist ein Bombenattentat. Kann man da nicht sagen, das ist schon sehr leichtsinnig, wenn eben eine Person, die es eigentlich besser wissen müsste, solche Gefährdungen ausspricht, obwohl die ja nicht bestehen?

Grimm: Also ich glaube, ein Fehler, der gemacht worden ist, nach dem, was ich selber aber auch nur aus den Medien weiß, ist, dass mit der Warnung, dass irgendwann vielleicht unter Umständen etwas geschehen könnte, nicht verbunden worden ist, wie man sich denn dann am besten verhält. Und was denn, wenn die Gefahr manifest würde, bis dahin ist sie ja rein abstrakt gewesen, was, wenn die Gefahr manifest würde, zu geschehen habe. Dann hätte die Intendantin vielleicht eine bessere Entscheidungsgrundlage für ihre Entscheidung gehabt, und möglicherweise wäre sie sogar anders ausgefallen.

Kassel: Wie ist es mit der Meinungsfreiheit, mit der Pressefreiheit, mit der Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, mit diesem hohen Wert, den die hat, finde ich, behaupte ich jetzt, und der momentanen Stimmung in der Öffentlichkeit. Wenn wir Dinge sehen wie der berühmte und viele Menschen beeinflussende Fernsehentertainer Harald Schmidt, der gesagt hat, ich äußere mich nicht mehr zum Islam, da will ich gar keinen Ärger mit haben, da mische ich mich nicht ein.

Wenn wir sehen, wie vielleicht auch Dinge bereits nicht gemacht wurden, von denen wir alle nicht wissen, weil sie klein sind, wo wir gar nicht wissen, dass sie ursprünglich geplant waren. Sind Sie nicht manchmal erschrocken, wie schnell diese Freiheit, die ja auch erkämpft werden muss - Sie haben das vor dem Verfassungsgericht persönlich erlebt, wie immer wieder gestritten wurde, was das bedeutet, dieser Text, wo einfach nur steht, alles ist frei. Sind Sie nicht erstaunt, wie schnell manche bereit sind, das aufzugeben?

Grimm: Ich finde, dass in den letzten Jahren, das kann man gar nicht genau datieren, dass in den letzten Jahren eine Gewichtverschiebung in der deutschen Gesellschaft stattgefunden hat von Freiheitsinteressen hin zu Sicherheitsinteressen, das kann man allgemein beobachten. Und das macht sich auch natürlich auch an Rechten wie Meinungsfreiheit und Medienfreiheit fest, aber dort nicht allein. Aber diese inneren Tatbestände, auf die Sie anspielen, also im Vorgriff schon auf mögliche Schwierigkeiten, auf mögliche Störaktionen, auf mögliche Gewaltaktionen, also im Vorgriff darauf schon den Gebrauch der Freiheit zu unterlassen, das ist ein großes Problem, aber ein Problem, dem man mit rechtlichen Mitteln nicht Herr werden kann.

Das Recht kann die Freiheit zur Verfügung stellen, aber das Recht kann niemand zwingen, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen. Es ist ja gerade eine Freiheit, die man entweder ergreift oder man unterlässt das Ergreifen. Und wenn das Unterlassen zur Regel wird, dann ist die Freiheit innerlich ausgehöhlt - nicht vom Staat, wo man eigentlich die Bedrohung gesehen hat, sondern ausgehöhlt von denjenigen, für die sie eigentlich geschaffen worden ist. Das ist ein sehr bedenklicher Vorgang, aber man darf nicht hoffen, dass das Recht selber wieder dagegen etwas ausrichten könnte.

Kassel: Nun hat tatsächlich zufällig mitten in diesem Opernstreit, wie es manche jetzt schon nennen, obwohl die Parallelen zum Karikaturenstreit vielleicht so nicht sind, da muss man auch vorsichtig sein, mitten zu dieser Zeit gestern die Islamkonferenz begonnen, die auf zwei bis drei Jahre angelegt ist. Positiv denken natürlich alle, das wird dazu beitragen, dass der muslimische Anteil der deutschen Bevölkerung sich stärker als viele auch jetzt schon zu diesen Rechten, auch zu der Freiheit bekennt. Manche sehen das ein bisschen anders und sagen, am Ende müssen ja alle Meinungen irgendwie in einen Kompromiss einfließen, der ja am Ende steht. Diese Freiheitsrechte, die Pressefreiheit, die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, die Freiheit der Meinungsäußerung, sind die verhandelbar bei uns?

Grimm: Nein, die sind nicht verhandelbar. Das gehört zum Kernbestand einer freiheitlichen Demokratie. Und da können sich die Grenzen, aber das ist nichts Neues, eigentlich immer nur aus denselben Freiheiten anderer oder aus anderen grundrechtlich gesicherten Positionen ergeben, aber das kann niemals Gegenstand sein, dort Kompromisse zu machen und entweder auf diesen Schutz zu verzichten, ihn drastisch zu beschränken oder ihn hinsichtlich bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht mehr anzuwenden. Nein, ich glaube, das kann auch nicht die Intention gewesen sein von denjenigen, die die Islam-Konferenz einberufen haben, die an sich ja als Gesprächsrunde ohne Zweifel eine gute Sache ist.

Kassel: Was eigentlich jeder sagt, man muss ja sagen, dass gestern noch nichts beschlossen wurde, das ist natürlich albern, das zu fordern, gestern war ja nur die Eröffnung. Aber natürlich wird ja schon wieder viel darüber geredet, wie juristisch eindeutig ein Ergebnis dieser Islamkonferenz sein könnte. Armin Laschet, Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, hat jetzt sogar gesagt, da sollte am Ende nach zwei bis drei Jahren ein Staatsvertrag rauskommen. Staatsvertrag ist juristisch eindeutig definiert. Kann der dabei rauskommen am Ende überhaupt?

Grimm: Ich weiß zunächst mal nicht, ob man wirklich dieses Ziel ins Auge fassen sollte, denn zunächst einmal geht es um Verständigung. Und wenn die Verständigung erzielt wird, dass alle Gruppen, und so klang es gestern, das Grundgesetz als eine gemeinsame Basis ihrer Aktion und Interaktion anerkennen, dann ist damit außerordentlich viel gewonnen. Also ob man auf ein solches Ziel hin arbeiten sollte, ist für mich außerordentlich fraglich. Wenn es geschähe, hinge sehr viel davon ab, was in einem solchen Vertrag drinsteht.

In Verträgen sichern sich die Partner wechselseitig Leistungen zu, was könnte das hier sein? Dann ist die Eigenart von Verträgen, dass sie anders als Gesetze nur die Beteiligten binden. Dann hängt natürlich sehr viel ab von der Verpflichtungskraft: Können die Sprecher bestimmter Gruppen ihre Anhänger verpflichten? Das wird wohl kaum der Fall sein. Dann gibt es sehr viele Gruppen. Der Islam ist keine katholische Kirche mit einem autoritativen Oberhaupt, so dass ich also denke, wenn man wirklich dieses Ziel anstrebt, wie gesagt, ich fände es nicht gut, müsste man sehr genau gucken, was drinsteht, wahrscheinlich würden nur Good-Will-Erklärungen und Absichtserklärungen drinstehen, die dann möglicherweise äußerlich wie ein Vertrag aussehen.

Kassel: Herzlichen Dank. Dieter Grimm war das, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und jetzt Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin im Gespräch im Deutschlandradio Kultur.