Welt-Stotter-Tag

Die optimale Kurve

Ein geöffneter Frauenmund
Mit Bedacht Worte formen - Computerprogramme unterstützen Stotterer dabei. © dpa / picture alliance
Von Ludger Fittkau · 22.10.2014
Alexander Wolff von Gudenberg, Leiter des Sprach-Trainingszentrums für Menschen mit Stimm-und Sprachstörungen, ist selbst Stotterer und musste sich seine medizinische Karriere erkämpfen. Heute therapiert er andere Betroffene.
"Ball, Ball, Ball …"
Manchmal muss ein Torjäger einen Fußball auf der Torlinie nur ganz sanft berühren, um ihn punktgenau im Kasten zu platzieren. Genauso behandelt Michael Neumeiers Stimme das Wort "Ball". Ganz vorsichtig wird es in Bewegung gesetzt, um nach einem kurzen, fließenden Weg durch den Raum auszuklingen.
Das Wort, das Michael Neumeier mehrfach wiederholt, wird jedes Mal auf dem Computerbildschirm als Kurve visualisiert. Eine Übung der Kasseler Stottertherapie, an der der 26 Jahre alte Kölner als Fortgeschrittener teilnimmt:
"Ball, Ball, Ball … und wie man schon sieht, habe ich beim zweiten und das ist hier, einen etwas abrupten Ausklang. Und deshalb sagt mir das Programm auch an dieser, das es nicht so passt und hier sehe ich auch die Punkteanzahl und ich kann mich auch selbst noch mal anhören und dann weiterklicken. Und so läuft es."
Das Computerprogramm, mit dem man auch zuhause üben kann, war seit den Anfängen vor fast 20 Jahren Teil der Kasseler Stottertherapie. Nach dieser Methode werden heute rund 250 Patienten jährlich behandelt – an verschiedenen Orten, verteilt über die Republik. Die optimale Kurve auf dem Bildschirm ist überall das Ziel der Übenden:
"Das Haus ist rot. Und hier ist auch wichtig, auf seine Artikulation zu achten. Denn vor allem beim gebundenen Sprechen hört sich das dann meistens so an: Das Hau is ro. Und dann versteht mich ja niemand. Und deswegen muss man am Anfang der Therapie, um da rein zu kommen, eher übertrieben artikulieren."
Das fehlerhafte Sprechmuster ersetzen
Chef des 50-köpfigen Trainerteams der Kasseler Stottertherapie ist Alexander Wolff von Gudenberg. Der sportliche Mann um die 50 ist Arzt – und selbst Stotterer:
"Habe ungefähr im Zeitraum von 25 Jahren zwölf unterschiedliche Therapien gemacht, das hat mich auch in die ganze Welt gebracht. In den USA habe ich dann ein sprechmotorisches Intensivprogramm kennengelernt, wo man eben sehr intensiv und sehr strukturiert eine neue Sprechweise erlernt, die sozusagen das alte, fehlerhafte Sprechmuster ersetzt."
Diese Methode brachte Alexander Wolff von Gudenberg nach Deutschland. Weil er in den 80er-Jahren als Betroffener kein Facharzt für Stimm- und Sprachstörungen werden konnte, entschied er sich dafür, Allgemeinmediziner zu werden. Heute leitet er erfolgreich in dem alten Feriendorf in Bad Emstal bei Kassel das stattliche Therapeutenteam. Auf dem Weg dahin hatte Gudenberg als Stotterer einige Hürden zu überwinden:
"Man wird als Medizinstudent regelmäßig gefragt, wie man eigentlich Arzt werden will. Bei meiner ersten Famulatur in Hamburg in der Neurologie hat mich der Chef sofort zu sich gebeten und hat mir die Medizin ausreden wollen.
Ein Psychiatrie-Seminar bei einem angeblich sehr fortschrittlichen Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover hatte zum Inhalt, dass man auch in die Familie von psychotischen Patienten gehen sollte, da hat er mich beiseite genommen und gesagt, er wolle das nicht, weil dann der Patient noch psychotischer wird. Da hat auch wenig geholfen, als ich ihm erzählt habe, dass ich vorher eine dreijährige Krankenpfleger-Ausbildung gemacht hatte und ein Jahr in der Psychiatrie gearbeitet hätte."
Forschungen im Feld der Online-Stottertherapie
Im praktischen Jahr floh Gudenberg dann nach Südafrika, weil er nicht die Hoffnung hatte, in einem deutschen Krankenhaus in dieser Ausbildungsphase klar zu kommen:
"Das hat mich so in Panik versetzt, dass ich dann nach Soweto gegangen bin, da war gerade der zehnte Jahrestag des Schüleraufstandes und deswegen haben sie gerade den Ausnahmezustand erklärt. Und ich bin dann trotzdem ins Krankenhaus gefahren. Da sieht man, dass man als Stotterer doch ziemlichen Schwierigkeiten ausgesetzt ist."
Schwierigkeiten, die für viele durch seine Sprachtherapie abgemildert werden können, hofft der Mediziner, der mit seiner Familie auf einem bezaubernden alten Gutshof unweit des Flughafens Kassel-Calden lebt. Alexander Wolff von Gudenberg experimentiert aktuell mit Formen von Online- Stottertherapie. Technisch ist das nicht ganz einfach, doch Gudenbergs Forschergeist in diesem Feld ist groß.
"Das Haus ist rot."
Michael Neumeier, der in Köln Medienwissenschaften studiert, kann sich reine Online-Therapiesitzungen für sich selbst nicht so richtig vorstellen. Ihm ist das karge Feriendorf am Rande von Kassel lieber:
"Weil man halt da ist und nicht in seinem häuslichen geschützten Umfeld. Und weil man da auch körperlich arbeiten kann, weil das ja auch viel von der Haltung abhängt. Und man dann auch verschiedene ehemalige Patienten und Klienten wiedersieht. Oder kennenlernt – und das ist immer schöner als mit einem Computer."
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