Weißrussland

Verbotene Erinnerungen

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko bei einer Militärparade
Schmückt sich gerne mit dem Militär: der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko © picture-alliance/dpa
Von Cornelius Wüllenkemper · 10.11.2014
Eine einzige Gedenkstätte erinnert in Weißrussland an die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Auch sonst gilt die Erinnerung den furchtlosen Frontkämpfern, ganz im Sinne des sowjetischen Geschichtsbilds.
"Dies hier war eine Sandgrube vor dem Krieg. Im Ghetto gab es ein Sonderkommando, das jeden Morgen die Leichen aufgesammelt hat. Die Toten hatten vom Hunger furchtbar aufgeblasene Bäuche. Sie wurden dann hierhin transportiert und einfach in die Grube geworfen."
Frida Reismann, eine kleine, äußerst energisch auftretende Frau, steht in eine weiße Pelzjacke gehüllt an einer Grube unweit einer Straßenkreuzung im Nordosten der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Als die deutsche Wehrmacht die Stadt 1941 besetzte, wurde die Mehrzahl der 75.000 Minsker Juden ins Ghetto gesperrt, zu Arbeitsdiensten gezwungen und später im Todeslager Trostenez am Stadtrand umgebracht.
"Ich hätte tausende Male unter den Toten sein können. Dieses Denkmal haben wir Juden nach 1953 selbst aufgestellt. Derjenige, der die jiddische Gedenktafel angefertigt hatte, ist damals dafür drei Jahre ins Gefängnis gegangen."
Reismann blickt auf einen Obelisken am Boden der Grube, an dessen Fuß frische Blumenkränze liegen. Sie selbst wurde im Alter von sieben Jahren ins Ghetto gesperrt. Anders als ihr älterer Bruder hat sie den Terror der Nazis überlebt. Heute ist sie Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Ghetto-Gefangener.
Die Mythen des sowjetischen Geschichtsbilds
Reismann wischt sich Tränen aus den kleinen, funkelnden Augen. Schwer zu sagen, ob es der kalte Oktoberwind in den Straßen von Minsk ist, oder die Erschütterung über ihre Erinnerung und den Kampf, den sie seit Jahren für das Gedenken an die jüdischen Opfer führt. Die "Jama", das hebräische Wort für "Grube", ist bis heute die einzige jüdische Gedenkstätte in Weißrussland.
"Wie die Vergangenheit heute dargestellt wird, wie immer noch verschwiegen wird! Unser Buch über die Judenverfolgung in Minsk hätte der Staat auf eigene Kosten herausgeben müssen. Warum müssen das die Ghettohäftlinge selber tun? Es geht doch um unsere gemeinsame Geschichte, wir waren alle Staatsbürger von Weißrussland. Von uns sind heute nur noch wenige am Leben, die Zeit rennt uns davon!"
Weißrussland löst sich nur widerwillig von den Mythen des sowjetischen Geschichtsbildes, in dem nur furchtlose Frontkämpfer und heldenhafte Partisanen Platz haben. Nach der Unabhängigkeit 1991 erhielten zwar auch ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter einige der Privilegien offiziell anerkannter Kriegsveteranen. Die Regelung wurde 2007 von Präsident Lukaschenko aber zurückgenommen, gerade als der Staatshaushalt wegen eines Energiekonflikts mit Moskau wieder einmal kurz vor dem Bankrott stand.
Im Taxi geht es vorbei am Minsker "Siegesplatz" mit der ewigen Flamme und dem Sowjetstern in Erinnerung an die Niederschlagung der deutschen Besetzung. Kein Land hat im "Großen Vaterländischen Krieg" gemessen an der Bevölkerung höhere Verluste erlitten als Weißrussland. Die "richtige" Erinnerung daran ist heute das wichtigste Merkmal im Selbstverständnis der jungen weißrussischen Nation. Im Mittelpunkt steht das sowjetische Heldentum. Ausgeklammert wird hingegen das Leid einiger Opfergruppen. Ihre Geschichte ignoriert der Staat. Aber einige wollen nicht schweigen.
Selbst dem Ehemann verschwieg sie die Vergangenheit
"Wollen Sie mich ins Gefängnis bringen? Jeder hat ja seine eigene Wahrheit. Ich habe allerdings das Gefühl, als wolle hier jemand die Vergangenheit schönreden und das Schreckliche verdrängen."
Im Hinterzimmer eines der modernen Hoteltürme in Minsk antwortet Regina Lawrowitsch mit Spott auf die Frage, was sie von der Gedenkpolitik in Weißrussland hält. Als Kind wurde Lawrowitsch von den Deutschen als eine von 500.000 so genannten "Ostarbeiterinnen" verschleppt. Als sie 1945 in die Heimat zurückkehrte, durfte sie von ihrer Zeit in Deutschland kein Wort verlieren, um nicht als Verräterin gebrandmarkt zu werden. Selbst gegenüber ihrem späteren Ehemann schwieg sie über 25 Jahre über ihre Zeit als Zwangsarbeiterin in Deutschland.
"Als ich vor ein paar Jahren unseren Verein anmelden wollte, sagte man mir beim Amt, die Kategorie 'minderjährige Zwangsarbeiter' gebe es nicht. Es gebe nur 'Kriegsopfer'. Der weißrussische Staat hat uns nie unterstützt. Wir mussten immer um unsere Anerkennung kämpfen."
Lawrowitschs Verein namens "Dolja" - Schicksal - ist einer der wenigen privaten Treffpunkte für die vergessenen Opfer des Krieges. Die Erinnerung an menschliches Leiden wird in Weißrussland nicht nur politisch eingesetzt, sondern auch streng kontrolliert.
Privater Gedenkverein für die Kriegsopfer
Borissow, siebzig Kilometer nördlich von Minsk. Eduard Gedroiz, ein kleiner freundlicher alter Mann, betreibt mit einigen Mitstreitern einen privaten Gedenkverein für die hiesigen Opfer des Zweiten Weltkrieges. Allein 1941 ermordeten die Deutschen hier im Lager siebentausend Menschen.
Die meisten der Überlebenden des Todeslagers sind heute verarmt und sozial isoliert. Die Monatsrenten betragen im Durschnitt etwa 150 Euro, das reicht mit etwas Glück für ein äußerst bescheidenes Leben in einem der einfachen Holzhäuser auf dem Land oder in einer winzigen Wohnung in einem der Minsker Betontürme.
"Hier an der Wand sehen Sie die Handarbeiten unserer Mitglieder, die bei unseren Treffen entstehen. Außerdem machen wir Bildungsreisen, zu Friedhöfen und Kriegsdenkmälern. Ich selbst habe einiges entdeckt, was ich bisher nicht kannte. Unseren Mitgliedern gefallen diese Reisen sehr."
Eduard Gedroiz und einige betagte Damen aus dem Opferverein servieren Tee und Plätzchen im Vereinsraum in einem Keller einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung. Man müsse über die verdrängte Vergangenheit reden und so der sozialen Isolation entkommen, erklärt Gedroiz gütig lächelnd.
"Plötzlich betritt eine füllige Dame mit äußerst strengem Gesicht und postmoderner Hochsteckfrisur den Raum. Die Gesichter der ehemaligen Zwangsarbeiter und Lagerinsassen erstarren augenblicklich, keiner spricht mehr ein Wort."
Alla Lénkina, Staatsvertreterin der Stadt Borissow, zuständig für Propaganda und ideologische Arbeit, stellt sich vor, bittet uns, den Raum "jetzt" zu verlassen und mit ihr in die nahegelegene Zentralbibliothek zu gehen. Dort könne man sich besser unterhalten. Der Ton, in dem die Staatsmacht auftritt, und die unterwürfige Reaktion der Zeitzeugen lassen keinen Zweifel: Widerspruch ist hier nicht vorgesehen.
Kontrolle über die "richtige Erinnerung"
Im Besucherraum der Bibliothek erklären dann ausgesuchte Zeitzeugen die, Zitat: "weise Politik des großen Führers Lukaschenko". Die Erinnerung an den Sieg gegen den Faschismus, dem nationalen Symbol Weißrusslands, wird immer noch von einer Mischung aus postsowjetischer Ideologie und kalkulierter Machtpolitik bestimmt. Mit der Kontrolle über die "richtige Erinnerung" bedient Lukaschenko sein wichtigstes Wählerklientel, die Veteranen, die fast ein Viertel der Bevölkerung des Landes ausmachen.
Wie eng Erinnerung und Tagespolitik in Weißrussland verzahnt sind, zeigte sich zuletzt im Sommer, als der Präsident überraschend dem Bau der ersten staatlichen Gedenkstätte am ehemaligen Todeslager Trostenez bei Minsk zustimmte. Den Grund für seine plötzliche Entscheidung verkündigte er wenige Monate später bei der Grundsteinlegung. Im südlichen Nachbarstaat Ukraine erhebe der Faschismus wieder sein Haupt, so Lukaschenko. Den vergessenen Kriegsopfern wird in Weißrussland offenbar nur dann gedacht, wenn es für die ideologische Stabilisierung des Staatsregimes opportun erscheint.
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