Weißrussland

Pleite in der Planwirtschaft

Weißrussland in der Wirtschaftskrise: Es gibt zu wenig zu tun, und das Geld wird ständig entwertet
Weißrussland in der Wirtschaftskrise: Es gibt zu wenig zu tun, und das Geld wird ständig entwertet © Foto: Grenzgänger
Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster · 28.11.2016
Die weißrussische Wirtschaft liegt am Boden, das Arbeitsrecht hat das Regime umgebaut, um die Arbeitnehmer zu disziplinieren. Das Land schlittert von einer Währungskrise zur nächsten, doch Präsident Lukaschenko zeigt sich beratungsresistent.
Bei jedem Arbeiter, der Richtung Feierabend eilt, quietscht erst die alte Holztür. Dann piept das Drehkreuz. Schicht-Ende in einer Fabrik für Elektrobauteile, ein Staatsbetrieb, irgendwo in der weißrussischen Provinz.
Die grünen Ziffern einer alten Digitaluhr zeigen zitternd 16.40 Uhr. Eine bullige Pförtnerin in Tarnhose mit Leopardentop und Hausschlappen mustert die Belegschaft. Kontrolliert ab und zu eine Tasche.
Marita kommt lächelnd durch die quietschende Tür. Die Pförtnerin würdigt die zierliche Mittzwanzigerin keines Blickes. Die nickt uns kurz zu: Wir sollen ihr folgen. Hinaus geht es auf die Straße, dann links rum, immer an einem langestreckten Gebäude aus der Sowjetzeit entlang. Die Fassade bröckelt, der Lack an den Fenstern ist abgeplatzt.
Alle diese Gebäude gehören zu unserer Fabrik, erzählt Marita, die in Wirklichkeit anders heißt. Viele Hallen stehen schon seit zwei Jahren leer, einige sind vermietet. Eine Druckerei arbeitet jetzt hier. Gleich um die Ecke sind ein Casino und ein Nachtclub eingezogen.
"Da tanzen die Leute auf den Ruinen der arbeitenden Gesellschaft".
Marita versucht, wann immer es geht, Englisch zu sprechen. Sie mag die Sprache. Um ein paar Straßenecken geht es, um noch etwas mehr Abstand zu gewinnen - von ihrem Arbeitsplatz und den Kollegen. Schließlich führt eine unscheinbare Treppe in einen Keller: In diese Sport-Bar wollte ich immer schon einmal gehen, sagt Marita. Aber mit meinem Gehalt kann ich mir das einfach nicht leisten. Sie blickt sich kurz um, inspiziert den Raum nach bekannten Gesichtern und setzt sich dann an einen Ecktisch. Weit weg vom Eingang. Unter eine Lautsprecherbox.

Lukaschenko ist seit 22 Jahren an der Macht

Die junge Frau hat in Minsk Rechnungswesen studiert. Nach ihrem Diplom wurde ihr eine Arbeitsstelle in der Elektrofabrik zugewiesen. Zwei Jahre muss sie dort arbeiten. Als Gegenleistung für das Studium.
Diese Regelung gilt für alle Akademiker in Belarus. Alternativ können sie sich mit einigen tausend Euro freikaufen. Doch Marita hat das Geld dafür nicht.
An ihren ersten Arbeitstag erinnert sie sich noch genau. Vor allem an die Papiere, die ihr vorgelegt wurden. Zuerst sollte sie in die staatliche Jugendorganisation BRSM eintreten, dann ein Beitrittsformular für die Partei "Belarus" unterschreiben. Schließlich auch noch ihre Stimme für die Präsidentschaftswahl abgeben. Die fand zwar offiziell erst einige Wochen später statt, doch der Betrieb sammelte schon einmal für Amtsinhaber Alexander Lukaschenko.
Seit mehr als 22 Jahren reagiert der mit autoritären Vollmachten das Land. Marita kann sich an keinen anderen Regierungschef erinnern. Sie lacht, trotzdem hat sie keines der Papiere unterschrieben. "Zwingen konnten sie mich ja nicht", sagt sie.
Marita greift zum Mobiltelefon, öffnet eine Foto-Datei, zeigt Aufnahmen aus ihrer Fabrik: Einen Aufzug, der schon lange nicht mehr funktioniert. Bröckelnde Treppenhäuser, alte Maschinen, einen Archivraum, vollgestopft mit Akten.
Das ist unser heimlicher Raucherraum, sagt sie. Der ist zwar dreckig, aber dort sind wir ungestört. Inmitten von Akten aus zwei Jahrzehnten.
"Die Lage ist sehr schlecht. Wir haben viele Schulden, eigentlich in allen Bereichen. Wir haben unsere Wasserrechnung nicht beglichen, unsere Stromrechnung auch nicht. Und Materialien, die wir schon längst verbaut haben, sind auch immer noch nicht bezahlt."
In Minsk beugt sich Valentin Stefanowitsch über seine Unterlagen. Der Anwalt arbeitet für Viasna, seit 20 Jahren protokolliert die Nichtregierungsorganisation Menschenrechtsverstöße. Besucht Prozesse, berichtet über juristische und politische Willkürakte. Auch über das belarussische Arbeitsrecht.
Befristete Arbeitsverträge sind ein sehr großes Problem. 80 Prozent der Unternehmen hier sind Staatsbetriebe. Offiziellen Angaben zufolge haben 70 Prozent ihrer Beschäftigten Vertragslaufzeiten zwischen einem und drei Jahren. Das bedeutet, die Lage für die Arbeiter ist heute schlechter als in der Sowjetunion.

Wer aufmuckt, verliert seinen Job

Wer aufmuckt, dessen Vertrag wird nicht verlängert. Das garantiert Disziplin am Arbeitsplatz. Und im gesellschaftlichen Leben. Damit wird das Arbeitsrecht – zu einem subtilen, fein justierbaren Herrschaftsinstrument.
Seit gut einem Jahr arbeitet das Lukaschenko-Regime daran, sein internationales Image zu verbessern. Im August 2015 wurden – wie lange von der EU gefordert - sechs politische Gefangene freigelassen, einige hatten 2010 gegen die Präsidentschaftswahl protestiert. Bei den Parlamentswahlen im September zogen sogar erstmals zwei Kandidaten der Oppositionins Parlament ein.
Aber das ist ein bisschen trügerisch. Wenn man die Anzahl der Repressionen betrachtet, wie Verhaftungen, politisch motivierte Verfahren, politische Gefangene – sind es wirklich weniger als zuvor?
In letzter Zeit ist viel von einer Annäherung Weißrusslands an die EU zu lesen. Denn die Regierung ist dringend auf Finanzhilfen angewiesen. Nach ihrer Vermittlerrolle im Russland-Ukraine-Konflikt und der Freilassung von politischen Gefangenen hat die EU einen Großteil der Sanktionen gegen das Land aufgehoben.

Druck auf Regimekritiker

Außenpolitisch zeigt sich Präsident Lukaschenko gesprächsbereit. Innenpolitisch aber hält der Druck auf Regimekritiker unvermindert an. Dabei hat das Regime seine Taktik verfeinert, berichtet der Anwalt. Demonstranten werden nicht mehr festgenommen, sondern "nur noch" von Polizei oder Geheimdienst gefilmt:
"Die gucken sich hinterher den Film an, schreiben ein Protokoll und schicken es dir. Dann geht es vor Gericht und dort brummen sie dir eine Geldstrafe auf. Wenn du öfter zu Demonstrationen gehst, kannst du bald nicht mehr zahlen. Dann versuchen die Leute vom Gericht, dein gesamtes Hab und Gut zu konfiszieren. Außerdem beschränken sie dein Recht, das Land zu verlassen. Wir bezeichnen das als neuen Typ der Repression ..."
Eine Datsche am Stadtrand von Minsk. Früher, als ich ein Kind war, gab es hier nur drei, vier Häuser, erinnert sich Igor, ein stämmiger Mittvierziger mit Vokuhila-Frisur. Jetzt stehen rund um sein Häuschen unzählige weitere Datschen: Alte, windschiefe Holzhäuser neben modernen Klinker-Palästen mit mannshohen Zäunen und schweren Metalltoren.
Nieselregen setzt ein. Igor bittet in ein Holzhäuschen mit abblätternder Farbe - die Sommerküche. Neben der Eingangstür hängen armlange Schaschlik-Spieße, unbenutzt. Schweinefleisch ist zu teuer geworden. Einzig Hühnchen leistet sich die Familie noch ab und zu. Igors Sohn zwängt ein Dutzend Hühner-Flügelchen in ein Drahtgestell und legt es draußen auf den Grill.
"Mein ältester Sohn hat die Technische Hochschule abgeschlossen, dann hat er noch zwei, drei Kurse in Programmieren gemacht. Aber er findet keine Arbeit, alle wollen zwei Jahre Erfahrung."
Schemel und Stühle werden herangeschleppt. Die ganze Familie rückt zusammen um den langen Tisch mit der geblümten Plastikdecke. In der Ecke brummt der altersschwache Kühlschrank.
"Wir essen weniger. Neulich konnte ich nicht alle Steuern zahlen, weil ich alles, was ich verdient hatte, gleich wieder ausgeben musste. Früher konnte ich immer ein bisschen sparen, da konnten wir auch mal in Urlaub fahren. Diese Zeiten sind vorbei. Heute arbeite ich, bekomme das Geld und das geht morgen für die Betriebskosten drauf. Wenn mein Auto jetzt kaputt gehen würde, wüsste ich nicht, wie ich die Reparatur bezahlen soll …"

Igors Transporter ist sein Betriebskapital

Igors weißer Transporter ist das Betriebskapital des privaten Fuhrunternehmers. Er liefert, was die Kunden kaufen. Aber nur die wenigsten könnten noch größere Anschaffungen machen.
"Vor drei Jahren war alles noch in Ordnung, doch seit zwei Jahren geht es bergab. Und im letzten Jahr waren wir bei Null. Jetzt haben wir kaum etwas zu tun und wir sehen nicht, dass es in Zukunft besser wird."
Beim Kampf um die raren Aufträge unterbieten sich die Fahrer gegenseitig. Gerade hat Präsident Lukaschenko wieder einmal dazu aufgerufen, den Gürtel enger zu schnallen.
"Egal wo oder was du arbeitest, egal, ob Du für oder gegen die Regierung bist, wenn jemand fragt, wie geht es Dir, dann gibt es nur depressive Antworten. Und wenn es heißt: Alles ist gut, dann ist man wirklich überrascht."
In einem Außenbezirk von Minsk beugt sich Jaroslaw Romantschuk über ein Tischmikrofon neben seinem mobilen Computer, begrüßt schwungvoll seine Hörerschaft.
Jeden Tag sendet "Primus" im Internet. Primus, das bedeutet Allesbrenner. Eine Stunde lang präsentiert der Ökonom aus Minsk aktuelle Wirtschaftsnachrichten. Meist sind es Krisenmeldungen: Rubel-Abwertung, Privatisierungs-Pannen, schrumpfende Devisen-Reserven.
Am 1. Juli 2016 führte die Regierung eine neue Währung ein. Bis zum Jahresende sollen die alten Rubelscheine verschwinden. Für einen alten 10.000 Rubel-Schein gibt es eine neue Ein-Rubel-Note. Vier Nullen weniger – das ist für Romantschuk nicht viel mehr als Finanzkosmetik:
"Seit 2011 wurde der weißrussische Rubel sieben Mal abgewertet. Sieben Mal! Das ist tragisch. In jedem anderen Land wäre die Regierung abgelöst worden. Bei uns aber ist weiterhin die alte Regierung am Ruder. Und macht weiter mit ihrer Wirtschaftspolitik. Lukaschenko weiß nicht, was er machen soll. Niemand aus seinem Umfeld darf über die Krise seines Wirtschaftsmodells sprechen. Er glaubt, dass alles weiterläuft und wir nur ein paar kleine Veränderungen brauchen."

Seit Jahren schlingert das 9,5 Millionen-Einwohner-Land von einer Währungskrise in die nächste. Lange Zeit konnte billiges Öl aus Russland, das in Weißrussland raffiniert und mit hohem Aufschlag weiterverkauft wurde, den Staatshaushalt stabilisieren. Bis zu 15 Prozent der Einnahmen kamen aus dem Ölgeschäft. Doch die Talfahrt des Ölpreises riss große Löcher ins belarussiche Staatsbudget. Mindestens drei Milliarden Euro fehlen, hat Romantschuk ausgerechnet.
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80 Prozent der Betriebe sind heute in Staatsbesitz, mehr als 3.000 Unternehmen schreiben Verluste, sagt der Ökonom. Das sind offizielle Zahlen, die für Unruhe in der Regierung sorgen. Bis zu 50 Prozent der Staatsbetriebe könnten privatisiert, unrentable Unternehmen geschlossen werden, hieß es vor kurzem aus dem Wirtschaftsministerium.
Romantschuk schüttelt den Kopf. Er fordert, zusammen mit dem Verband der Kleinunternehmen, erst einmal verlässliche Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Engagement zu schaffen:
"Wenn man ein Staatsunternehmen kauft, kann es in der Zukunft immer wieder Überraschungen geben. Den spektakulärsten Fall gab es bei der Schokoladenfabrik Spartak in Gomel. 1993 wurde das Staatsunternehmen verkauft. 20 Jahre lang produzierte dort der neue Besitzer. Und dann stellte ein Gericht fest, dass die Fabrik beim Verkauf angeblich unterbewertet war. Schließlich hat die Regierung 65 Prozent der Firmen-Anteile übernommen."
Kürzlich durfte Romantschuk sogar im Staatsfernsehen mitdiskutieren. Über die Wirtschaftslage. Das gab es vorher noch nie. Für den Ökonom ein eindeutiges Krisenzeichen:
"Die Funktionäre brauchen jemanden, der Klartext redet, der eine andere Linie vertritt als die offizielle. Ich spreche aus, was sie Lukaschenko gerne sagen würden, sich aber nicht trauen. So einfach ist das."
In der Sportbar in Minsk rührt Marita in ihrem Cappuccino. Erzählt weiter über ihre Erfahrungen in dem großen, staatlichen, Elektrobetrieb:
"Vor kurzem haben Mitarbeiter entdeckt, dass wir noch Elektro-Teile aus dem Jahr 2013 auf Lager hatten. Mittlerweile aber gelten neue Sicherheitsvorschriften für diese Materialien. Da haben wir einfach alles um etikettiert. Alle Teile tragen jetzt den Aufkleber: Hergestellt 2015. Einen ganzen Tag waren wir mit Kleben beschäftigt. Ich habe meine Kollegen gefragt: Ist das legal? Der Vorarbeiter hat gesagt: Natürlich ist das illegal. Aber das geht dich nichts an."

Die Arbeiter verdienen 90 Euro im Monat

Mehr als tausend Kollegen arbeiten in der Fabrik. Die meisten sind älter als 40 Jahre. Viele schlafen in einem der Fabrik angeschlossenen Wohnheim, verdienen rund 90 Euro im Monat.
Das reicht doch kaum zum Leben, sagt die 25-Jährige. Nicht für einen Konzertbesuch. Oder einen Abend in der Bar. Marita wohnt noch bei ihren Eltern. Sie blickt in ihren Cappuccino. Schiebt den Milchschaum mit dem Löffel hin und her. Sie weiß, dass sie noch länger als ein Jahr in der Fabrik aushalten muss. Fünf Tage die Woche. Von 8 bis 16.00 Uhr. Auch wenn es kaum etwas zu tun gibt. Darüber hat sie neulich erst wieder mit ihrem Chef gesprochen:
"Ich habe gefragt, ob ich auf zweieinhalb Tage die Woche reduzieren kann. Natürlich wurde das abgelehnt. Wenn wir darauf eingehen, hieß es, zeigt das doch, dass wir nicht genug Arbeit für dich haben. So arbeite ich jetzt zwei, drei Stunden am Tag. Und die restliche Zeit sitze ich rum und surfe im Internet."
Marita schaut auf die Uhr, greift zu ihrem Rucksack. Morgen früh muss sie wieder zum Dienst antreten.
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