Was heißt denn hier Zigeuner

10.11.2011
Ein zweitägiges Symposium in Berlin, veranstaltet von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Kulturstiftung der Allianz-Versicherung und dem Literarischen Colloquium Berlin, geht der Frage nach: Welches Bild kursiert heute über die größte Minderheit in Europa, die Sinti und Roma?
"Zigeuner" ist ein Wort, das seit dem Holocaust niemand mehr in Unschuld verwenden kann. 500 000 Menschen, die das Dritte Reich mit dem Wort "Zigeuner" markierte, sind in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet worden. Also klingt in diesem Wort immer auch die Geschichte dieses Verbrechens an. "Zigeuner" ist aber gleichzeitig ein Begriff, in dem viele ganz andere Geschichten aufgehoben sind. Geschichten von Diskriminierung und Romantisierung, von Ausgrenzung und Faszination. Für Herta Müller, Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin, schimmert das Vielgestaltige all dieser Geschichten unter dem politisch-korrekten Begriff Roma nicht hervor.

"Ich bin damals, 1991, mit dem Wort 'Roma' nach Rumänien gefahren, habe es in den Gesprächen anfangs benutzt und bin damit überall auf Unverständnis gestoßen. "Dieses Wort ist scheinheilig", haben mir die Zigeuner gesagt. "Wir sind Zigeuner. Und das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt.""

Vor zwanzig Jahren hat Herta Müller über rumänische Roma eine Reportage geschrieben, die bislang nie in voller Länge veröffentlicht wurde. "Es ist zu fürchten", so die Schriftstellerin, "dass der Text immer noch aktuell ist". Zur Auftaktveranstaltung des Symposiums über die Situation der Roma in Europa las sie daraus vor.

"Hütten, die am Rand der Orte hängen, da wo Feld oder Wald und staubige Wege bis vor die Tür kriechen. In den Hütten gibt es keinen Strom, kein Wasser, keine Möbel. Kinder schleppen kleinere Geschwister. Sie sind verdeckt vom Gesicht, von den nackten, kleineren Füßen, die fast bis zu ihren eigenen Zehen hängen. Sie tragen Menschen und müssten selber noch getragen werden. Die Hunde sind groß, bewegen sich langsam zwischen den Hütten. Sie schauen genau und wissen, wer nicht dazugehört."

Herta Müllers Text erzählt von Ausgrenzung und Armut, von Bildungsferne und Familienzwängen. Von patriarchalischen Stammesstrukturen in den Roma-Clans und von Rassenhass in den Dorfgemeinschaften. "All dies sind soziale und kulturelle Missstände, die bis heute die Situation von Roma in Europa prägen", sagt Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung, die das zweitägige Roma-Symposium gemeinsam mit der Allianz-Kulturstiftung ausrichtet.
"Es ist ein tabuisiertes Thema, das ist leider öffentlich nicht relevant genug, und es wird im konkreten politischen Alltag immer sehr konfliktuös behandelt. Diesen Thematiken muss man sich stellen in der deutschen Öffentlichkeit. Wir wollen das mit einer prominenten, hochkarätigen Veranstaltung tun. Um natürlich auch Agenda-Setting zu betreiben und gleichzeitig auch Öffentlichkeit zu schaffen."

Und so wird morgen auf der Tagung in Berlin darüber diskutiert werden, wie Europa mit seiner größten Minderheit umgeht. Warum beispielsweise die 12 Milliarden Euro, die die EU in den vergangenen drei Jahren in Roma-Integrationsprojekte investiert hat, den Roma bis heute kaum geholfen haben, warum in Rumänien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei jedes Jahr Morde an Roma angezeigt werden. Warum die Schulbildung der Roma-Kinder die schlechteste in ganz Europa ist, und warum die Bundesrepublik in den kommenden Jahren mehr als 5000 Kinder aus Roma-Familien nach Serbien und in den Kosovo abschieben wird, obwohl bekannt ist, dass sie dort keine Perspektive haben.

Sie werden dort weder eine Ausbildung machen können, noch medizinische Versorgung genießen. Von gesellschaftlicher und kultureller Partizipation ganz zu schweigen. Für den Historiker Silvio Peritore, der im Vorstand des Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma sitzt, passen diese Verhältnisse nicht zu einem Europa der Demokratie und Menschenrechte.

"Dieser Umgang mit den Sinti und Roma ist etwas, das wir einfach nicht mehr zulassen dürfen. Das dürfen wir nicht dulden. Sonst konterkarieren wir unsere eigenen Wertvorstellungen. Und wir machen uns vor allem unglaubwürdig."

Es soll aber auf der Tagung nicht nur um die Roma als eine Gruppe gehen, die Probleme macht. Das betonte Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung: "Wir wollen gerade die Bilder vom Roma außerhalb des Ressentiments aufspüren und die kulturellen Ressourcen der Roma öffentlich machen."
"Eine ganz wichtige Komponente dieser Veranstaltung ist, die Kreativität der Roma auch zum Thema zu machen, wenn man so will, die Haben-Seite der Geschichte der Roma deutlich zu machen. Das ist eine sehr lebendige, kreative Kultur, die uns sehr viele Geschichten zu erzählen hat. Und diese Narrative gilt es, öffentlich zu debattieren und zu multiplizieren. Das ist einer der wesentlichen Punkte, der auch einen empathischen Zugang zu dem Thema eröffnet."

Romane, Lyrik, Performance, Musik und Bildende Kunst der Roma werden morgen Thema der Diskussionsrunden auf der Tagung sein. Neben den politischen Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe haben die Roma vor allem ein Ende von Stereotypen im Sinn. "Das Bild, das die Öffentlichkeit von uns zeichnet, schwankt zwischen Romantisierung und Diskriminierung", bemerkt Merfin Demir vom Verein Terno Drom, einer interkulturellen Roma-Jugendorganisation. Dieses Bild müsse sich ändern.

"Ich sehe es so, dass zwischen der Diskriminierung auf der einen Seite und der Romantisierung auf der anderen Seite letztlich die gleiche Struktur steckt. Also die Ent-Individualisierung. Das heißt: In einer Gruppe von Menschen weist man kollektiv - ich sag mal - 'romantische' oder 'kriminelle' Eigenschaften zu. Und beides ist meilenweit davon entfernt, einen Menschen zu erkennen mit individuellen Eigenschaften und Entwicklungen."

Die Zukunft der Roma in Europa wird nach Auffassung aller Tagungsteilnehmer davon abhängen, in wieweit es gelingt, die Bilder vom Zigeuner, vom Roma oder vom Sinto verschwinden zu lassen hinter dem Bild von einzelnen Menschen. Und nicht mehr eine Gruppe von anderen zu betrachten, die Objekte von Politik sind, sondern Individuen, die als Subjekte auch eine Verantwortung tragen. Es gelte also letztlich, Strategien zu entwickeln, wie die Roma Europas diese Verantwortung übernehmen können.

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Nachspiel: Abseits im eigenen Land
Religionen: Immerwährende Diskriminierung
Hintergrund: Von Zigeunerjungen und anderen Vorurteilen
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