Warum koptische Christen Ägypten verlassen

Moderation: Matthias Hanselmann · 29.09.2011
Seit dem Sturz des Mubarak-Regimes fliehen koptische Christen in großer Zahl aus Ägypten - aus Angst vor Übergriffen durch Islamisten. Der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad warnt: Das Land wird dadurch wirtschaftlich und kulturell ärmer.
Matthias Hanselmann: Im März wurde der ägyptische Präsident Hosni Mubarak gestürzt. Große Freude herrschte im Land unter den Oppositionellen aller Richtungen und Religionen, so auch unter den Christen, deren Mehrheit die koptischen Christen sind. Christen und Muslime hatten sich vereint gezeigt im Kampf gegen das Regime Mubaraks. Aber die Verfolgung der Kopten in Ägypten ist nach der Revolution grausamer als zuvor, das stellen Beobachter wie Fouad Ibrahim fest, der an der Uni Bayreuth Sozialgeografie lehrt. Nach wie vor, sagt er, seinen Kopten Bürger zweiter Klasse, würden verfolgt, Gewalttaten gegen sie würden nicht bestraft. Die Folge: Rund 100.000 koptische Christen, so wird geschätzt, sind bereits aus Ägypten ausgereist, geflohen ist vielleicht das bessere Wort.

Wir sprechen jetzt mit Hamed Abdel-Samad. Er ist Autor, Historiker und Politwissenschaftler ägyptischer Herkunft und jetzt für uns in einem Studio in Berlin. Guten Tag!

Hamed Abdel-Samad: Guten Tag, Hallo!

Hanselmann: Herr Samad, Sie haben die ägyptische Revolution nicht nur aus der Ferne beobachtet, Sie waren ja selbst auf dem Tahrir-Platz und haben mit demonstriert zu einer Zeit, als Muslime und Christen sich auf derselben Seite sahen, gemeinsam gegen Mubaraks Regime kämpften. Jetzt also verlassen koptische Christen massenhaft das Land. Es sollen gegen Ende des Jahres sogar bis zu 250.000 sein, die ausreisen. Wovor genauer flüchten denn diese Christen?

Abdel-Samad: Diese Christen flüchten vor dem Einfluss der Islamisten, vor allem der Muslimbrüder auf der Straße und der Salafisten. Kurz nach dem Sturz Mubaraks sind zwei koptische Kirchen von Extremisten angezündet worden, und das ist aber nicht neu in Ägypten. Die Spannung zwischen den Kopten und den Muslimen gab es auch zu Zeiten von Mubarak und auch davor, aber die Diktatur hat es verhindert, dass das im großartige Gewalt ausbricht, und jetzt wird all das, was das mit die Diktatur mit Gewalt unterdrückt hat, aufgelöst, und dann kommen diese Spannungen und die Differenzen ans Tageslicht.

Hanselmann: Also Sie teilen auch die Beobachtung, die ich eben zitiert habe, dass die Verfolgung eher größer geworden ist, oder tritt sie nur mehr zutage?

Abdel-Samad: Man bekommt mehr mit. Die Kopten wurden immer verfolgt und lebten immer als Bürger zweiter Klasse in Ägypten – merkwürdigerweise, weil eigentlich bedeutet das Wort Kopten Ägypter, weil die Kopten ja die Ureinwohner des Landes sind. Und so haben die Griechen sie genannt, die Kopten, und jetzt fühlen sie sich fremd im eigenen Lande. Ich habe auf dem Tahrir-Platz viele junge Kopten, Frauen und Männer, getroffen, die auf bessere Zeiten gehofft haben, auf mehr Demokratie und Freiheit und Bürgerrechte, und einer von ihnen hat bald den Tahrir-Platz verlassen und gesagt: Das ist nach wie vor noch nicht mein Land.

Hanselmann: Was würden Sie sagen: Wie groß ist der Verlust für Ihr Heimatland durch die Abwanderung der Kopten?

Abdel-Samad: Riesengroß. Die Kopten bilden ja neun bis zehn Prozent der Bevölkerung. Viele von ihnen sind in der Wirtschaft tätig, auch in der Kulturbranche – ich erinnere an die 50er-Jahre nach der Nasser-Revolution, da mussten auch die ägyptischen Juden das Land verlassen, weil sie beschuldigt worden waren, die fünfte Kolonne Israels zu werden, und seitdem ist Ägypten menschlich und kulturell arm geworden. Ich fürchte, dass mit dem Abzug vieler Kopten jetzt auch das gleiche geschieht. Es fliehen aus dem Land jetzt die besseren Menschen, die Ägypten jetzt braucht, die Intellektuellen und die Menschen, die auch die Wirtschaft teilweise auch stützen können.

Hanselmann: Sie haben eben zwei Gruppierungen genannt, die es sozusagen besonders auf die Kopten abgesehen haben: Die Salafisten und die Muslimbrüder. Der Sprecher der Muslimbrüder in Europa, Kamal al-Helbawy, behauptet, es gäbe gar keine größeren Probleme zwischen Kopten und Muslimen. Warum sagt er das?

Abdel-Samad: Ich weiß nicht, warum er das sagt. Ich habe auch mit Anführern der Muslimbrüder in Kairo gesprochen, und sie behaupten immer das gleiche, dass all diese Differenzen inszeniert waren von der Diktatur. Aber das ist eigentlich nicht wahr, weil es gibt religiös begründete Diskriminierung der Kopten in Ägypten, es gibt soziale Marginalisierung und es gibt Abneigung und Ressentiments, die auch in Schulbüchern und auch in den Medien immer wieder genährt werden. Und ein Land, das jetzt im Begriff ist, eine Demokratie aufzubauen, muss verstehen, dass jede Demokratie daran gemessen wird, wie man mit der Minderheit umgeht und welche individuellen Rechte jeder Einzelne von diesem Staat bekommt. Und wenn diese beiden Fragen nicht geklärt werden, dann wird es auch zu keiner Demokratie kommen, weil Demokratie nicht nur die Herrschaft einer Mehrheit bedeutet.

Hanselmann: Es wandern ja auch Angehörige anderer Gruppierungen, Religionen aus, auch Muslime. Gibt es vielleicht eher sogar schon einen allgemeinen Exodus derer, die es sich finanziell leisten können – aus Angst davor, dass es doch nicht gut geht mit der Demokratisierung?

Abdel-Samad: Das ist leider der Fall. Mit jedem Umbruch muss man immer rechnen mit Masseneinwanderung (gemeint ist offenbar Massenauswanderung - d. Red.) und mit dem Aufstieg des Extremismus, zumal wenn auch diese Umbrüche nicht sofort erkennbare Strukturen hervorbringen – und wir sehen es jetzt, die Demokratisierungsprozesse werden langsamer, und die Menschen werden ungeduldiger, und diejenigen, die sich ein Flugticket oder eine Schifffahrt leisten, tun das und verlassen das Land. Dadurch wird das Land noch ärmer und hat weniger Ressourcen, um sich wieder aufzubauen, und das ist natürlich die Verantwortung der neuen Machthaber. Sie müssen sofort erkennbare Strukturen schaffen, sie müssen für Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit sorgen und sie müssen natürlich Beschäftigungsprojekte auch starten, damit die jungen Menschen auch endlich mal erkennen, dass Freiheit sich lohnt und dass diese Umbrüche auch für sie etwas bringen können.

Hanselmann: Ich habe mal gelesen – apropos bei der Gelegenheit –, dass Ihr Bruder zunächst schwer verletzt worden ist in Kairo und dann einer der Ersten war, der dort eine eigene Fabrik aufgemacht hat. Wie geht es denn seinem Unternehmen?

Abdel-Samad: Ihm und seinem Unternehmen geht es sehr gut. Er hat angefangen, sogar jetzt Wasserrohre nach Afrika zu exportieren, obwohl seine Fabrik nur ein paar Monate alt ist. Das ist jetzt die positive Seite des Umbruchs, dass die Wirtschaftsbranchen, die früher monopolisiert waren von der Familie Mubarak, jetzt freigesetzt, frei geworden sind, und auch private Investoren die Möglichkeit haben, das zu tun. Aber all das braucht natürlich langfristig Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit, damit auch mehr Investoren kommen und dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem deutsch-ägyptischen Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad über die Rolle der christlichen Kopten in Ägypten, aber auch über das, was auf Ägypten zukommt. Herr Abdel-Samad, im November wird es die ersten freien Wahlen in Ägypten geben – wir haben es gesagt –, und gerade hat die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte regelrecht Alarm geschlagen. Deren Mitglied Professor Ibrahim befürchtet, dass die islamistischen Parteien rund 70 Prozent der Stimmen bekommen werden und Ägypten ein islamistischer Staat à la Iran oder Afghanistan wird. Ist es bei Ihnen auch schon so weit, dass Sie diese Befürchtung teilen?

Abdel-Samad: Die Islamisten werden sicherlich eine große Rolle spielen, aber nach meiner Einschätzung werden sie nicht mehr als 40 Prozent bekommen. Es gibt andere Kräfte im Lande, und die Islamisten sind nicht so beliebt, wie man denkt. Sie sind zwar besser organisiert, aber sie sind nicht so beliebt in der Bevölkerung, weil sie auch kaum eine Rolle gespielt haben in der Revolution und beim Sturz Mubaraks. Einige von ihnen haben sogar Mubarak gestützt bis zur letzten Minute.

Ich gehe davon aus, das so eine Art Konsens halber Demokratie entsteht, eine nationale Einheitsregierung mit den unterschiedlichen Parteien, und ich befürchte nicht, dass Ägypten sich zu einem Iran entwickelt, weil Ägypten nicht viel Erdöl hat, um sich in die Isolation zurückzuziehen. Ägypten lebt vom Tourismus, von ausländischen Investitionen, von Export, und all das braucht eine Öffnung des Landes, das Land kann sich die Isolation nicht leisten. Das wissen auch die Muslimbrüder übrigens.

Hanselmann: Was ist denn aus ihrer Sicht die Gruppe, die am stärksten dafür sorgen kann, dass wirklich Demokratisierung stattfindet und der Prozess sich entwickelt?

Abdel-Samad: Es ist die junge Tahrir-Generation, die jungen Frauen und Männer zwischen 18 und 25, die in Millionenscharen auf dem Tahrir-Platz und allen Tahrir-Plätzen im Land unterwegs waren zwischen Januar bis heute – übrigens, heute gibt es auch einen Millionenmarsch auf dem Tahrir-Platz. Man ruft, man will, dass der Militärrat die Macht abgibt und dass die Wahlen demokratisch abgehalten werden. Diese junge Generation ist aber noch zu jung und politisch unerfahren. Sie sind stark, sie sind selbstbewusst, aber sie haben keine politische Struktur. Ich schätze, in zehn bis 15 Jahren wird diese Generation die Hauptrolle in der Politik Ägyptens spielen. Das gilt auch für die Nachbarstaaten.

Hanselmann: Vielen Dank und von mir noch der Hinweis, im Oktober erscheint Ihr neues Buch zur aktuellen Lage, Titel: "Krieg oder Frieden – die arabische Revolution und die Zukunft des Westens", wird bei Droemer erscheinen. Danke schön, Hamed Abdel-Samad!

Abdel-Samad: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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