Warum der Mindestlohn neoliberal ist

Von Matthias Gronemeyer · 05.11.2013
Mindestlohn - wenn das kein politisch eindeutig zu verortendes Projekt ist. Der Staat macht sich zum Anwalt der Schwachen - klingt nach linker Politik. Bei genauer Betrachtung lassen sich aber neoliberale Begründungen für den Mindestlohn finden, meint der Autor Matthias Gronemeyer.
Im Zuge der Bundestagswahl ist Deutschland parlamentarisch nach links gerückt. Die FDP ist weg, der Mindestlohn kommt. Ein später Sieg des Sozialismus? Könnte man meinen. Gerade in Sachen Mindestlohn liegen die Dinge aber anders. Vielleicht entpuppt sich diese vermeintlich linke Maßnahme am Ende ja als nachgerade neoliberal?

Wer in Deutschland so wenig verdient, dass er von seiner Arbeit nicht leben kann, wird vom Staat mit zusätzlichen Transferleistungen unterstützt. Gut 1,3 Millionen sogenannte Aufstocker gibt es derzeit, die zu ihrem Arbeitslohn noch Hartz IV beziehen. Ist jemand auf staatliche Transferleistungen angewiesen, unterwirft er sich aber automatisch der staatlichen Willkür und wird teilentmündigt. Gegenüber den Bedürftigen tritt der Staat als Besitzender auf, der sie je nach politischer Großwetterlage oder bürokratischem Kleinmut gängeln kann.

Idee der Freiheit auf den Hund gekommen
Mit der Einführung eines flächendeckenden und hinreichend hohen Mindestlohnes wären diese Eingriffe des Staates in die Privatsphäre von Millionen von Bürgern vom Tisch. Der Mindestlohn bedeutet nicht mehr Staat, sondern stellt im Gegenteil einen Rückzug des Staates dar: Der Staat stellt nurmehr eine Regel auf, die für alle gleichermaßen gilt, und sortiert nicht mehr nach Bedürftigkeit.

Diese "rule of law" ist im Sinne jenes Neuen oder auch Ordo-Liberalismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Exzesse des Manchester-Kapitalismus entstanden war. Das 19. Jahrhundert hatte auf der einen Seite riesige Vermögen, auf der anderen kümmerliche Existenzen hervorgebracht. Die Idee der Freiheit, wie sie von den klassischen Liberalen David Hume und insbesondere Adam Smith formuliert worden war, war auf den Hund gekommen. Von Chancengleichheit, die nicht nur auf dem Papier besteht, sondern sich auch in den materiellen Verhältnissen äußert, konnte keine Rede mehr sein.

Flächendeckender gleicht einem Kartellgesetz
Aber auch für diese Neuen Liberalen ist die Einkommensverteilung ein Produkt des Marktes. Nun werden Niedriglohnempfänger aber in den meisten Fällen nicht deshalb so schlecht entlohnt, weil sie unproduktiv, vulgo faul und dumm, wären, sondern weil einige Unternehmen, zum Teil ganze Branchen, die staatliche Transferpolitik für sich kapern und Machtverhältnisse verfestigen konnten, die dem Einzelnen jegliche Chance auf einen angemessenen Lohn verwehren.

Dagegen wäre es Aufgabe der Politik, schrieb Friedrich August von Hayek, einer der Vordenker jenes Neuen Liberalismus, "für jedes zufällig herausgegriffene Mitglied der Gesellschaft die Chancen zu verbessern, ein hohes Einkommen zu erzielen". Um Ausbeutung zu verhindern, sei "der Vermachtung entgegenzuwirken", so Walter Eucken, der Begründer des Ordo-Liberalismus. Die Einführung eines flächendeckenden und branchenunabhängigen Mindestlohns gleicht also eher einem Kartellgesetz, das den Wettbewerb sichert, als einem Eingriff in die unternehmerische Freiheit.

Demokratie ist, wenn die Bürger den Staat tragen
Diesen Punkt übersieht, wer den Mindestlohn immer nur durch die betriebswirtschaftliche Brille betrachtet. Eine verbindliche Lohnuntergrenze bedeutet für den Unternehmer natürlich höhere Kosten, die aufgrund einer globalen Konkurrenzsituation nicht einfach auf den Konsumenten abgewälzt werden können. Nach dieser Logik müssten sich dann allerdings alle Regulierungen der Wirtschaft verbieten, vom Verbot der Kinderarbeit bis zum Umweltschutz. Eine völlig unregulierte Wirtschaft, ein Laissez-faire, bringt indes vor allem Klüngel, Lobbyismus und Kartelle hervor, die gerade jene Chancengleichheit untergraben, auf die es dem politischen Liberalismus ankommt.

Demokratie ist, wenn die Bürger den Staat tragen – nicht umgekehrt. Und wir wissen aus vielen Studien, dass der Bezug von Transferleistungen die Menschen von der Politik entfernt, wohingegen mit dem selbst erwirtschafteten Einkommen auch das Partizipationsniveau steigt. Ein flächendeckender Mindestlohn wäre demnach ein Schutzschild der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung gegenüber einem übergriffigen Sozialstaat. Und wenn das nicht im besten Sinne liberal ist, was dann?

Matthias Gronemeyer, Jahrgang 1968, ist Philosoph, Autor und Publizist. Er lehrt an der PH Ludwigsburg. In seinem Buch "Profitstreben als Tugend?" (Marburg 2007) hat er sich mit den Notwendigkeiten und Grenzen des Kapitalismus auseinandergesetzt. Im Renneritz Verlag erschien unter dem Pseudonym M. Grabow sein Romandebüt "Hanna", in dem er von einer Liebe in Zeiten der Gentechnik erzählt.


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