Warten auf den Knall in Ägypten

Von Anne Françoise Weber · 26.06.2013
Dem einjährigen Amtsjubiläum von Präsident Mursi sieht Ägypten mit Spannung und Sorge entgegen. Die Oppositionsbewegung hat zu Demonstrationen aufgerufen und fordert seinen Rücktritt. Viele Ägypter sind zwar unzufrieden mit Mursi, doch sie haben auch Angst vor Straßenschlachten.
"Was machst du am 30. Juni?" lautet derzeit die häufigste Frage in Kairo. Wird sie unter Ausländern gestellt, geht es meist darum, ob man bis Sonntag schon mit Kind und Kegel das Land für die Sommerferien verlassen hat – einige Unternehmen haben ihre ausländischen Angestellten tatsächlich aufgefordert, vorher auszureisen.

Ägypter stellen die Frage, um zu wissen, ob man auch vorhat, am 30. Juni zu demonstrieren. Denn an diesem Tag will die Opposition noch einmal so richtig gegen Präsident Mursi mobilisieren. Und die Bilanz seines ersten Amtsjahres ist tatsächlich erschreckend schlecht.

Schon kurz zuvor war das Parlament vom Verfassungsgericht aufgelöst worden, seine Geschäfte werden von der zweiten Kammer, dem Shura-Rat, weitergeführt. Doch auch er ist verfassungswidrig zusammengesetzt. Ob allerdings im Oktober – wie angekündigt – neu gewählt wird, scheint sehr ungewiss.

Einfluss der Muslimbruderschaft ausgeweitet
Vorerst regiert Mursi recht autokratisch. Und wirtschaftlich versinkt das Land immer weiter in Armut. So hat der Tourismus seit der Revolution enorme Einbußen erlitten.

Mitte Juni erschien er durch die Ernennung eines neuen Gouverneurs für Luxor noch weiter gefährdet: ausgerechnet ein Mitglied der Gamiyya Islamiyya, die 1997 bei einem Anschlag Dutzende Touristen getötet hatte, sollte dieser Provinz voller weltberühmter Sehenswürdigkeiten vorstehen.

Dass der Tourismusminister daraufhin seinen Rücktritt einreichte, hat den Präsidenten nicht zum Einlenken bewegt – letztlich trat der Gouverneur selbst von seinem Posten zurück.

Auch im Kulturbereich bleibt Mursi hart: Seit Wochen demonstrieren Künstler und Intellektuelle gegen den neuen Kulturminister. Ihn scheint weniger seine Kompetenz in Kulturdingen als seine Nähe zur Muslimbruderschaft für den Posten zu qualifizieren.

In den wenigen Wochen seit seinem Amtsantritt hat er bereits zahlreiche Schlüsselposten neu besetzt und damit den Einfluss der Muslimbruderschaft ausgeweitet – ein Prozess, der in vielen Bereichen zu beobachten ist; Gegner einer weiteren Islamisierung des Landes sind alarmiert.

Eine Kampagne mit dem Namen "Rebellion" sammelt seit Wochen Millionen von Unterschriften für den Rücktritt Mursis, eine Gegenkampagne tut das gleiche für seinen Verbleib im Amt. Kein Wunder also, dass die Menschen in Kairo einander fragen: "Was machst Du am 30. Juni?"

Mich erstaunt immer wieder die große Geduld und Leidensfähigkeit der Ägypter im Alltag. Millionen zwängen sich täglich auf dem Weg zur Arbeit in überfüllte U-Bahnen oder Minibusse – mit ihrem Lohn lässt sich angesichts rasant steigender Preise kaum noch eine Familie ernähren.

Millionen schicken ihre Kinder auf schlechte Schulen und ihre kranken Angehörigen in schlechte Krankenhäuser, für die sie viel Geld zahlen müssen. Sie verbringen Tage in miserabel organisierten Verwaltungen und bekommen doch oft nicht die nötigen Papiere. Statt über ihr Leid zu klagen, preisen sie Gott, dass es ihnen besser gehe als anderen.

Doch an verbitterten Gesichtern, unfreundlichen Antworten und daran, wie schnell ein Verkehrsunfall zur Schlägerei führen kann, merke ich, wie angespannt die Menschen sind.

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi
Ägyptens Präsident Mohammed Mursi© picture alliance / dpa
Sorge vor Straßenschlachten
Der Blick in die Zeitungen bestätigt, dass Leidensdruck und Fanatismus wachsen und sich in Gewalt immer wieder ein Ventil verschaffen. Auch wenn die Kriminalitätsrate insgesamt immer noch gering scheint, liest man da von Lynchmorden und ähnlichen Grausamkeiten.

Kann es überhaupt gelingen, am 30. Juni den alltäglichen Leidensdruck in gewaltfreien politischen Protest umzuwandeln? Ich kenne niemanden, der keine Gründe zum Protestieren sähe. Viele, besonders Frauen, wollen sich dennoch nicht auf die Straße wagen. Zu groß ist die Sorge, dass es am Sonntag zu Straßenschlachten kommen könnte.

"Was machst du am 30. Juni?" beinhaltet auch die Frage: "Meinst du, es hat Sinn zu demonstrieren und dabei unser Leben aufs Spiel zu setzen?" Viele Ägypter haben die Frage für sich noch nicht beantwortet.

Als Außenstehende, die das Land aus anderen Gründen vor dem 30. Juni verlässt, kann ich keine Antwort darauf geben. Nur hoffen, dass genug auf die Straße gehen, um Präsident Mursi endlich zum Hinhören, Nachdenken und Einlenken zu bringen.

Dass er zurücktritt, damit rechne ich nicht. Zu selbstverständlich hält er an seinem Amt fest und zu zersplittert ist die Opposition. Ich frage mich auch, wie ein anderer die großen, zum Teil jahrzehntealten Probleme des Landes wirklich in Griff bekommen könnte.

Ein Recht darauf, nicht mehr so intransparent und autokratisch regiert zu werden, haben die Ägypter aber allemal. Hoffentlich kommen sie diesem Ziel am 30. Juni ein Stück näher – ohne Blutvergießen.

Anne Françoise Weber lebt und arbeitet als freie Journalistin in Kairo. Sie hat evangelische Theologie, Sozial- und Islamwissenschaften in Marburg, Berlin und Tunis studiert und über muslimisch-christliche Beziehungen im Libanon promoviert. Nach einer Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule, mehreren Jahren im Libanon und Stationen bei Radio France Internationale und dem Evangelischen Pressedienst war sie als Redakteurin für Religion und Gesellschaft bei Deutschlandradio Kultur in Berlin tätig, bevor sie erneut in die arabische Welt zog.

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Anne Françoise Weber© Deutschlandradio - Bettina Straub