Warlam Schalamow: "Wischera. Antiroman"

Zeuge der Menschheitsverbrechen Stalins

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Etwa zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte der Schriftsteller Warlam Schalamow (1907 - 1982) in Stalins Lagern. © picture alliance / dpa
Von Jörg Plath · 27.06.2016
Weil er das verbotene Lenin-Testament druckte, musste der 22-jährige Warlam Schalamow 1929 für drei Jahre ins Sonderlager am Fluss Wischera im Nordural. Dort herrschten Gewalt und Willkür. Für Schalamow war das Lagersystem "ein Abdruck der sowjetischen Gesellschaft", meint Jörg Plath.
22 Jahre alt ist Warlam Schalamow, als er 1929 in Moskau verhaftet wird. Anderthalb Monate sitzt der mit den Trotzkisten sympathisierende Student in Einzelhaft, weil er das verbotene Lenin-Testament druckte, verweigert die Aussage und wird als "sozial gefährliches Element" wie ein Dieb zu drei Jahren Sonderkonzentrationslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt.
Das Urteil ist "vernichtend, betäubend, beispiellos für die damalige Zeit", doch Schalamow nennt es auch "den Beginn meines gesellschaftlichen Lebens". Nur auf sich gestellt, ohne die Möglichkeit, wie die meisten Revolutionäre dem Zweifel an der Partei durch das glühende Vertrauen in deren Führer zu entgehen, findet er im Butyrka-Gefängnis zu einem moralisch geprägten Individualismus. Er gelobt Ehrlichkeit, "die Übereinstimmung von Wort und Tat", auch wenn es sein Leben fordern sollte.

Noch geht es in den Lagern nicht um physische Vernichtung

In das Solowezker Sonderlager am Fluss Wischera im Nordural muss Schalamow marschieren. "Wischera. Antiroman" ist der letzte Band der von Franziska Thun-Hohenstein herausgegebenen Werkausgabe, die den Schriftsteller neben Imre Kertész, Tadeusz Borowski und Primo Levi etabliert hat – als Zeugen der Menschheitsverbrechen in Stalins sibirischen Lagern an der Kolyma, dem "Kältepol der Grausamkeit". Vor der Entlassung 1932 wundert sich der Lagerkommandant an der Wischera, dass Schalamow nicht beim Aufbau der Lager an der Kolyma helfen wolle. "An die Kolyma, Genosse Natschalnik, fahre ich nur mit Begleitposten", antwortet Schalamow. Sechs Jahre später ist es soweit. 17 Jahre überlebt er in Sibirien mit knapper Not. Die "Erzählungen aus Kolyma", an denen Schalamow von 1953 bis 1973 arbeitet, können erst Ende der 1980er-Jahre, nach seinem Tod, in der Sowjetunion veröffentlicht werden.
Parallel entstehen die Texte zur Wischera. Auch sie sind "Antiroman", nicht Fiktion, doch wirken nicht wenige von ihnen unfertig. Die russische Herausgeberin, der die deutsche folgt, lässt "Wischera. Antiroman" durch Anordnung und Auswahl als Vorläufer der Kolyma-Erzählungen erscheinen. Noch ist die physische Vernichtung nicht das Ziel der Lager.

Die Willkür wird juristisch abgesegnet

An der Wischera wird Schalamow ein "kleiner Chef" von 50 Häftlingen, später reist er mit einer Untersuchungskommission zu Außenlagern, dann wird gegen ihn und andere wegen Korruption ermittelt. Als die Untersuchungen nach vier Monaten im Isolator ergebnislos enden, ergeht ein Urteil über vier Monate Isolator sowie schwere Arbeit: Die Willkür wird juristisch abgesegnet. Sarkastisch würdigt Schalamow Stalins "neuen Beitrag zur Rechtswissenschaft".
Um den Schuldbegriff zu demontieren, muss er zu keiner rechtstheoretischen oder moralphilosophischen Argumentation greifen. Schuld gäbe es im Lager nicht, denn dort säßen "gestrige (oder künftige) Häftlinge" über Häftlinge zu Gericht, bewachten Häftlinge Häftlinge. Und nach 1930, als Stalins "Umschmiedung" die Lager zu Werkbänken werden lässt, verkürzt Normerfüllung die Strafe. Sie bestimmt sich also nach körperlicher Kraft und, weil Kriminelle andere für sich arbeiten lassen, brutaler Gewalt. Darin erweist sich die Schärfe von Schalamows Analyse, das Lagersystem sei ein Abdruck der sowjetischen Gesellschaft.

Warlam Schalamow: "Wischera. Antiroman"
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein
Berlin 2016, Verlag Matthes & Seitz
272 Seiten, 22,90 Euro

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