Walter Siebel: "Die Kultur der Stadt"

Ein Lob auf den urbanen Lebenstil

Im Abendlicht werfen die Beine von Fußgängern, die über die London Bridge laufen, lange Schatten aufs Pflaster, aufgenommen im März 2005.
Bringt die Verflechtung von Leben und Arbeit dem Städter nur Erleichterung? © picture-alliance / dpa / Daniel Sambraus
Von Carsten Hueck · 08.02.2016
Das Leben des Städters als selbstbestimmte Einheit des Alltags: In "Die Kultur der Stadt" macht der Soziologe Walter Siebel einen Trend der "Reurbanisierung" aus, zumindest in Europa. Seine These ist zu optimistisch geraten, urteilt unser Rezensent.
Der Kampf mit dem IS schwappte im vergangenen Jahr aus den Weiten des Irak und Syriens in die europäischen Städte. Nach den Anschlägen in Paris wurde die französische Hauptstadt schnell zum Symbol westlicher, freiheitlicher Lebensart erklärt, doch in den Ladenpassagen patrouillierten nun maskierte Militärs. Raum für eine Vielfalt von Lebensstilen und Konsum – reicht das aus, um die Stadt zu definieren? Was sie zu einem besonderen Ort in der Gegenwart macht, will der Soziologe Walter Siebel in seinem Buch "Die Kultur der Stadt" erklären.
Siebel ist Spezialist für Stadtforschung, Universitätsprofessor und zugleich Berater von Kommunen, Großstädten sowie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Das macht sein Buch informativ und gut lesbar. Der Stadtbewohner wird angeregt, den Raum, in dem selbstverständlich zu leben er sich angewöhnt hat, noch einmal mit anderen Augen wahrzunehmen. Er lernt, die Stadt zu lesen, ihre historische Entwicklung und ihren gegenwärtigen Zustand zu begreifen.
Siebel schöpft aus dem Fundus seiner Vorgänger
Nun haben sich viele Autoren seit dem Entstehen der modernen Großstadt im 19. Jahrhundert literarisch und ideengeschichtlich mit ihr auseinandergesetzt. Siebel schöpft aus diesem Fundus und greift Erkenntnisse seiner Vorgänger dezidiert auf. Max Weber und Georg Simmel, Karl Marx, Émile Durkheim, Hans Paul Bahrdt und der Chicagoer Schule der Soziologie erweist der Autor die Referenz und entwickelt im Dialog mit ihnen seine zentrale These: Die besondere Lebensweise des Städters, so Seibel, ist durch zwei Merkmale charakterisiert. Nach dem Verlust religiöser, militärischer und politischer Funktionen sei das Spezifikum städtischer Lebensform heute die Entlastung von notwendigen Arbeiten sowie die ständige Begegnung mit Fremden.
Siebel macht eine "Reurbanisierung" aus, die er auf Leistungen der modernen "Stadtmaschine" zurückführt: Durch die Verflechtung von Leben und Arbeit eröffne sich für den Städter eine selbstbestimmte Einheit des Alltags. Und durch die dauerhafte Anwesenheit von Fremden und der souveränen Akzeptanz dieser Situation entstehe eine besondere kulturelle Produktivität. Kultur versteht Siebel dabei im Sinne Herders – als Lebens- und Verhaltensweise. Pluralität von Kulturen zeichne die moderne Großstadt unserer Tage aus, die europäische Großstadt wohlgemerkt; asiatische Megacitys hat der Autor nicht im Blick.
Wie anstrengen ist Urbanität?
Die kenntnisreich entwickelte These überzeugt nicht. Die Verflechtung von Leben und Arbeit bringt dem Städter nicht nur Erleichterung, sondern unterwirft ihn auch dem Zwang ständiger Verfügbarkeit. Die Fixierung auf einen (wenn auch erweiterten) Kulturbegriff wirkt wie eine Verlegenheitslösung und zu optimistisch. Erleben wir doch gerade, wie schwer sich auch die Stadt, nicht nur das Land mit der Integration von Fremden und Fremdem tut – ökonomisch, strukturell, psychisch. Siebel scheint das selbst zu ahnen, er warnt vor sozialer Polarisierung und gibt schließlich zu: "Der Prozess der Urbanisierung schwankt zwischen Emanzipation und der Errichtung immer neuer Zwänge. Urbanität ist anstrengend."
Vielleicht wäre genau das die derzeit angemessene Definition.

Walter Siebel: Die Kultur der Stadt
Edition Suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
474 Seiten, 18,00 Euro

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