Wahrheit ist relativ

Rezensiert von Peter Kirsten · 28.09.2005
Seit jeher haben Menschen ihren Blick auf die Sterne gerichtet und versucht, ihre Beobachtungen zu deuten. Dabei haben sie hartnäckig an allerlei falschen Ideen festgehalten. In "Big Bang" beschreibt der englische Publizist Simon Singh den langen Weg zur "Erfindung" moderner Theorien.
Wir alle haben von der Urknall-Theorie schon einmal gehört, nach der unser Universum vor etwa 15 Milliarden Jahren durch eine gewaltige Explosion – englisch "Big Bang", der große Knall – entstanden ist. Aber wir wissen vielleicht nicht genau, ob dieser Big Bang eben nur eine Theorie ist, über die die Wissenschaftler heute noch streiten, oder ob wir ihn in unseren Kanon der einigermaßen gesicherten Wahrheiten aufnehmen dürfen.

Mit solchen Unsicherheiten räumt der englische Autor und Wissenschaftsjournalist Simon Singh, der in diesem Jahr für seine wissenschaftlichen Vermittlungsleistungen den Essener Universitätspreis 2005 erhalten hat, auf. Singh spannt einen großen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart, er verfolgt und erklärt die Bilder, die sich die Menschen von der Welt, vom Kosmos gemacht haben.

Zunächst das geozentrische Weltbild, bei dem die Erde der Mittelpunkt des Kosmos war. Es passte am besten zu unserer Alltagserfahrung, die uns immer noch vor Augen führt, dass sich die Sonne scheinbar um die Erde dreht. Leider war es falsch. Es wurde abgelöst durch das heliozentrische Weltbild, das von Kopernikus und Galilei verfochten wurde. Hier stand die Sonne im Mittelpunkt und das war richtig. Die Erde und andere Planeten kreisen um das Zentralgestirn. Aber das richtige Weltbild hatte es schwer, sich durchzusetzen. Es widersprach der Erfahrung, und die Kirche fürchtete um ihren Einfluss, wenn der Mensch eben doch nicht der Mittelpunkt aller Dinge sei.

Simon Singh beschreibt diese Erkenntnisgeschichte nicht bloß als eine Abfolge von Modellen, von Weltbildern, sondern er erklärt sie als einen Prozess von konkurrierenden Wahrheiten. Was für uns heute als gesichertes Wissen gilt, war damals ein gewaltiges Ringen, ausgefochten von Menschen, die hinter ihren Überzeugungen – und Irrtümern – standen. Singh bricht die Erkenntnisgeschichte auf die Akteure herunter und macht sie dadurch wunderbar nachvollziehbar.

"Die Erfindung der modernen Naturwissenschaft" – der Untertitel des Buches verweist auf eine weitere wichtige Linie, die der Autor verfolgt. Er beschreibt die genaue Beobachtung der Natur und des Himmels als Voraussetzung dafür, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Erzählweise zieht sich durch das ganze Buch, in dem die naturwissenschaftliche Geschichte des 20. Jahrhunderts den größten Teil ausmacht.

Im 20. Jahrhundert entstand auch die Theorie vom Urknall. Noch im Jahre 1900 glaubten die Gelehrten, dass der Kosmos ewig sei und unveränderlich existieren würde. Man hatte sich eingerichtet in einem Weltbild, in dem alles in geordneten Bahnen verläuft. Singh beschreibt in seiner spannenden Erzählweise die Erkenntnisgeschichte von dieser statischen Auffassung über erste Modelle kosmischer Entwicklung zum relativ gesicherten Weltbild des 20. Jahrhunderts, das der Urknall heute ist.

Albert Einstein stand am Anfang dieser Entwicklung. Seine allgemeine Relativitätstheorie, die eine Theorie der Schwerkraft ist, rechneten andere durch und fanden, dass es ein Modell des Universums geben könnte, das sich ausdehnt. Das war in den zwanziger Jahren. Bald darauf gab es erste Beobachtungsdaten, die dieses Modell erhärteten. Astronomen entdeckten, dass sich die Galaxien mit hoher Geschwindigkeit voneinander fortbewegen. Wenn das so ist, wenn es ein expandierendes Universum gibt, dann muss es auch einen Anfang gegeben haben. Der Astronom Fred Hoyle prägte dafür – eher scherzhaft, denn er glaubte nicht an dieses Modell – den Begriff "Big Bang". Aber es dauerte noch bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts, bis sich die Urknall-Theorie als gesichert durchsetzte.

Besonders aufschlussreich ist auch der Epilog des Buchs. Der große Bogen, den Singh spannt, endet mit einer gewissen Nähe zur Religion: Urknall und Schöpfung liegen nicht mehr soweit auseinander wie die früheren statischen Auffassungen, bei denen das Weltall ewig und unveränderlich ist. Und der "Urknall" provoziert natürlich geradezu die Frage aller Fragen: was war davor? Eine Antwort ist einfach und dennoch unbefriedigend: Der Urknall spannte Raum und Zeit auf, in denen sich dann die Materie und die Sterne bildeten. Aber wenn die Zeit hier ihren Anfang nahm, dann erübrigt sich die Frage, was vor dem Urknall war – denn da gab es noch keine Zeit.

Singh hat ein Buch geschrieben, das sicher anspruchvoll ist und dennoch in fesselnder Weise die großen Fragen der Kosmologie erzählt. Hilfreich und manchmal amüsant formuliert ergänzen Zusammenfassungen nach den einzelnen Kapiteln die Lektüre.


Simon Singh: Big Bang. Der Ursprung des Kosmos und die Erfindung der modernen Naturwissenschaft
Aus dem Englischen von Klaus Fritz
Hanser Verlag 2005
ca. 560 Seiten mit Abbildungen, 27.90 Euro