Wagner-Dirigent Hans Richter

Ein Mann ohne Scheuklappen

Ein Flügel steht im Haus Wahnfried in Bayreuth
Haus Wahnfried in Bayreuth: Hans Richter war hier häufig zu Gast. © dpa / picture alliance / Nicolas Armer
Von Stefan Zednik · 05.12.2016
Als 1876 Wagners "Ring des Nibelungen" in Bayreuth komplett aufgeführt wird, ist der Dirigent Hans Richter der Kreateur dieses Erfolgs. Er war der treueste Schüler und Verteidiger Wagners - und doch mehr als nur ein gläubiger Jünger. Heute vor 100 Jahren starb Hans Richter.
"Sein Dirigieren war eine Offenbarung. (…) Er hat ein imponierendes Auftreten, eine großzügige, geniale Art, eine wunderbare Selbstzucht, ein erstaunliches Gedächtnis, eine profunde Kenntnis der Partituren. Er dirigiert mit dem Taktstock, aber darin liegt nicht seine Macht, sie liegt in seinen Augen und seiner linken Hand."
So beschreibt der englische Trompeter Walter Morrow seinen langjährigen Chef Hans Richter. Im Jahr 1843 wurde Richter als Sohn eines komponierenden Domkapellmeisters und einer Opernsängerin im ungarischen Raab geboren. Früh genoss er eine gründliche musikalische Ausbildung: Neben dem selbstverständlichen Klavier erlernte er die meisten der Orchesterinstrumente, erwarb in einigen eine große Spielfertigkeit.
Der Mitgliedschaft im kaiserlichen Konvikt in Wien, der ersten Ausbildungsstätte für junge Sänger im Land, folgte das Konservatorium und eine erste Anstellung als Hornist im Orchester der Hofoper. Über eine Empfehlung geriet der jetzt 23-Jährige in Kontakt zur damals alles überragenden Musikerpersönlichkeit des deutschen Musiklebens: Richard Wagner.
"Ich bin nicht da, um mir eine Stelle zu erschleichen, sondern um zu lernen. Und das kann ich … Nie hätte ich woanders das erlernen können als hier, unter den Augen dieses genialen Mannes."

Er riskierte etwas

Richter wohnt mit dem Wagner-Clan im schweizerischen Tribschen, er wird von der Familie wegen seines sanften Gemüts, von Wagner wegen seiner Sorgfalt und seines Fleißes sehr geschätzt. Und der berühmte Komponist, der die Verehrung seiner Mitarbeiter mitunter bis zu deren Selbstaufgabe auch ökonomisch nutzt, lohnt es dem jungen Mann: Durch Wagners Empfehlung wird Richter königlicher Musikdirektor in München.
Dort riskiert er, treu an des Meisters Seite, Kopf und Kragen beim Streit um die Uraufführung der Oper "Rheingold", die Wagners Förderer König Ludwig II. unbedingt durchsetzen, Wagner wegen der unzureichenden Aufführungsbedingungen unbedingt verhindern will.
"Wahrhaft verbrecherisch und schamlos ist das Gebaren von Wagner und dem Theatergesindel. Es ist dies eine offenbare Revolte gegen meine Befehle. (…) Richter darf keinesfalls mehr dirigieren und ist augenblicklich zu entlassen."
Richter bleibt bei seiner geraden Linie und nimmt die Stellungslosigkeit zeitweise in Kauf. 1876 eröffnen die ersten Bayreuther Festspiele im eigens dafür geschaffenen Haus mit der Erstaufführung des "Ring des Nibelungen" unter seiner Leitung. Auf Empfehlung Wagners wird er Chefdirigent der Oper in Budapest, später in Wien, wo er 25 Jahre das Opern- und Konzertleben dominiert.

Uraufführungen von Brahms und Bruckner

Musikalische Scheuklappen sind Richter fremd. Er ist kein Avantgardist, doch er bringt Symphonien von Brahms und Bruckner zur Uraufführung, in Wien die Protagonisten musikalisch verfeindeter Lager. Und er wendet sich, ausgehend von einem Londoner Gastspiel mit Wagner, bei dem beide dirigieren, mehr und mehr nach England, damals musikalische Diaspora.
Richter dirigiert Wagner-Opern an Covent Garden, symphonische Musik in London und Manchester. In Wien, wo er mit dem Schwung des neuen Hofoperndirektors Gustav Mahler nicht mitgehen will, kündigt er und begibt sich im Jahr 1900 dauerhaft auf die Insel. Dort brennt sich der Dirigent vor allem durch die Förderung der englischen Musik ins Bewusstsein.
"To Hans Richter, true artist and true friend…"
… schreibt Edward Elgar als Widmung in seine Erste Symphonie. 1911 tritt Richter zurück und geht wieder nach Deutschland, wo er am 5. Dezember 1916 an seinem letzten Wohnsitz Bayreuth stirbt.

"Einzig und allein mein Fehler"

Dem Gedächtnis der Musikwelt ist nicht nur seine unerschütterliche Ruhe, sein dirigentisches Talent und seine prophetische Ausstrahlung in Erinnerung geblieben, sondern auch sein gradliniger Charakter. Als das Orchester einmal auseinanderfällt und Richter im Konzert abbrechen muss, wendet er sich zum Publikum.
"Meine Damen und Herren, machen Sie nicht das Orchester für diesen Lapsus verantwortlich; es war einzig und allein mein Fehler."
Es folgt tosender Applaus der sich erhebenden Zuhörer. Einen Dirigenten, der seine Fehlbarkeit in dieser Weise öffentlich zugibt, hatte man noch nicht erlebt.
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