Vor der Volksabstimmung in der Türkei

Deutschtürken sollten lieber Deutschland unterstützen

Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Erdogan halten in Köln Fahnen. Einer hält ein Schild hoch mit der Aufschrift "Erdogan ist ein Held der Demokratie".
Von der deutschen Demokratie profitieren und trotzdem Erdogan wählen? Diese Entscheidung von Deutschtürken kann Necla Kelek nicht nachvollziehen. © dpa picture alliance / Henning Kaiser
Von Necla Kelek · 03.04.2017
Die Erdogan-Fans unter den Deutschtürken kann die Autorin Necla Kelek nicht verstehen. Wer in einer Demokratie lebe und für die Verwandtschaft in der Türkei die Diktatur wähle, sei kein verantwortungsbewusster Bürger und handele verantwortungslos.
JA oder NEIN , EVET oder HAYIR , die Entscheidung über das Referendum, mit dem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Verfassung der Republik Türkei verändern will, spaltet nicht nur das Land vom Bosporus bis zum Ararat, sondern auch türkische Gemeinden und Familien in Deutschland.
Es geht um ein JA oder NEIN zur Gewaltenteilung, JA oder NEIN zur parlamentarischen Demokratie und letztlich wohl auch darum, ob die Türkei ein Land wird, in dem der politische Islam Anspruch auf Alleinherrschaft erhebt.
Für Erdogan geht es um die Festigung seiner Macht. Sollte er aber verlieren, könnte dies wohl auch der Anfang vom Ende seiner Herrschaft bedeuten.

Selbstverständnis als religiöse Minderheit statt als Staatsbürger

Der Wahlkampf, von der Regierungspartei AKP mit einer bisher kaum für denkbar gehaltenen Djihad-Rethorik und gezielten Provokationen und Einschüchterungen geführt, hat nicht nur die Türkei in zwei Lager gespalten, sondern auch ein Problem offenbart, dass bisher in Deutschland weitgehend ignoriert oder verdrängt wird.
Und zwar die Integration der Türkeistämmigen in Deutschland oder, um es anders zu formulieren, die Loyalität der aus der Türkei stammenden Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Lebensmittelpunkt Deutschland.
Plötzlich wird für viele erstmals überraschend deutlich, dass hier lebende Türken, einerseits sehr wohl die Sicherheit einer Demokratie, eines Rechts- und Sozialstaats für sich nutzen, andererseits aber bereit sind, einer Diktatur ihre Stimme zu geben.
Es wird deutlich, dass eine Mehrheit der hier lebenden Türkeistämmigen sich als Volksgruppe, religiöse Minderheit begreift und nicht als Bürger und Bürgerinnen dieses Landes.

Türkischer Chauvinismus wurde verharmlost

In der Türkei hat der Nationalismus vor allem unter den Grauen Wölfen Konjunktur gehabt. Jetzt wird er von der AKP-Regierung als osmanische Folklore fortgelebt. Waren es früher nationalistische Vereine, die "Der Türke ist der Größte" proklamierten, ist es heute der Nationalismus im Gewand der Osmanen, der eine islamistisch-nationalistische Identität beschwört.
Die deutsche Politik hat dem islamisch-türkischen Chauvinismus keine eigene nationale oder bürgerliche Leitkultur oder Identität entgegengesetzt. Ja, die linksgrüne Politik bis in die Regierungen hinein, hat Selbstausgrenzungen von Migrantengruppen als Vielfalt gepriesen, und eher bewirkt, dass diese Migranten auch in der dritten und vierten Generation ihre Identität aus dem untergegangenen Osmanischen Reich oder einer im Mittelalter verharrenden Religion beziehen. Wir sollten dem selbstbewusst das Leitbild des freien, für die demokratische Gesellschaft eintretenden Bürgers entgegensetzen und Loyalität zu diesem Land und seiner Verfassung einfordern.

Verantwortungsbewusste Bürger wählen keine Diktatur

Das Integrationsangebot Deutschlands besteht darin, dass jeder freien Zugang zu Schulen, Bildung, Arbeit und den Angeboten des Sozialstaats hat, aber jedem selbst überlassen wird, diese Angebote auch wahrzunehmen. Integration wird angeboten aber nicht eingefordert.
Wer in seiner Familie, im anatolischen Clan oder der islamischen Community und deren Traditionen verharren und sich abgrenzen will, kann das nach diesem Modell tun. Integration ist ein freibleibendes Angebot.
Wer in einer Demokratie lebt und für die Verwandtschaft in der Türkei die Diktatur wählt, ist kein verantwortungsbewusster Bürger und handelt verantwortungslos. Wenn Deutschtürken beklagen, der Grund für ihre Zustimmung zum Referendum sei die mangelnde Liebe von Seiten der Deutschen, antworte ich: Sagen Sie NEIN zur Ermächtigung des AKP-Präsidenten, sagen Sie aber JA zu ihrer neuen Heimat. Probieren Sie, dieses Land zu lieben und seien Sie loyal, und Sie werden feststellen, ein besseres nicht zu finden.

Necla Kelek, geboren 1957 in Istanbul, kam mit zehn Jahren nach Deutschland und hat in Hamburg und Greifswald Volkswirtschaft und Soziologie studiert und über das Thema "Islam im Alltag" promoviert. 2005 bis 2009 war sie ständiges Mitglied der Deutschen Islam-Konferenz. Sie ist Mitglied des Senats der Deutschen Nationalstiftung. Kelek lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin. Bücher: "Islam im Alltag" (2002), "Die fremde Braut" (2005), "Verlorene Söhne" (2006), "Bittersüße Heimat" (2008), "Himmelsreise" (2010), "Chaos der Kulturen" (2012). Das Buch "Hurriya heißt Freiheit - Die Revolte der arabischen Frauen" (2012).

Porträt von Necla Kelek
© imago / Sven Simon
Mehr zum Thema