Von Eltern, die ihre Kinder essen

05.07.2012
Die Zwangskollektivierung der chinesischen Landwirtschaft unter Mao Zedong mündete in die wohl größte Hungekatastrophe der Geschichte. Vermutlich verhungerten mehr als 30 Millionen Chinesen. Das Ausmaß des Grauens mit all seinen unerträglichen Fakten macht dieser Band deutlich.
Yang Jishengs eigener Vater verhungerte 1959 vor den Augen des Sohnes - als eines von womöglich 36 Millionen Opfern in der fürchterlichsten Hungerkatastrophe seit Menschengedenken. Was Yang nicht davon abhielt, zunächst engagierter Kommunist zu bleiben und an den "Großen Sprung nach vorn" zu glauben, jene Kampagne, in der Maos China zwischen 1958 und 1961 den Westen einholen und den Übergang zum Kommunismus schaffen wollte.

Erst allmählich dämmerte Yang, dass die Tragödie in seiner Familie kein Einzelfall, sondern in weiten Landesteilen tödliche Regel infolge verfehlter Politik gewesen war. Als Journalist der offiziellen chinesischen Presseagentur Xinhua sammelte er Jahrzehnte später die Dokumente und führte die Interviews, aus denen dann "Grabstein" wurde. Das Werk, das ursprünglich 2008 in Hongkong erschien, ist laut S. Fischer Verlag in China verboten.

Die Lektüre des Buchs, in dem mehrere 10.000 Zahlen ausgebreitet werden, erweist sich als Exerzitium. Auf den ersten 360 Seiten schildert Yang die stets ähnlichen Einzelheiten der Katastrophe in ausgewählten Provinzen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Gründung von Volkskommunen (anstelle von Familien) und die Einrichtung von Gemeinschaftsküchen machten schon den Besitz eines Topfes, geschweige denn eines Sacks Reis zum Verbrechen, das nicht selten mit grausamer Folter (es wurden etwa Münder zugenäht) und Schlägen bis zum Tod bestraft wurde.

Der staatliche Getreide-Ankauf orientierte sich an illusorisch hohen Ernte-Erträgen und absurden Fortschritts-Hoffnungen. Die herkömmliche landwirtschaftliche Produktion, die die Chinesen ernährt hatte, brach zusammen. Binnen kürzester Zeit darbten riesige Landstriche. Die wohlgenährten, korrupten Kader in den Kreiskomitees der Partei beharrten darauf - Mao folgend -, der Nahrungsmittelmangel sei "ein ideologisches, kein reales Problem".

Die Nicht-Privilegierten vertilgten von Lehm über Wurzeln bis Vogelkot alles Essbare und Nicht-Essbare. Eltern töteten ihre Kinder, um sie zu braten, und umgekehrt. So mancher überlebte, weil er genügend unbegrabene Hungertote fand. In den Häusern wurden Verstorbene als Kranke getarnt, um in den Kantinen einen zusätzlichen Löffel ausgelaugten Brei zu ergattern.

Obwohl all diese Dinge generell bekannt sind, ist Yangs Buch hier Seite für Seite ein schockierendes Sterbe-Register und – wenn man das so sagen darf - eine zermürbende Zumutung. Die Zahl der Hungertoten liegt nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 15 und 45 Millionen; Yang schreibt von 36 Millionen, kann dies gut begründen – letztlich ist dies, horribile dictu, nicht entscheidend. Das Ausmaß der Katastrophe war in jedem Fall unvorstellbar.

Im zweiten Teil analysiert und kritisiert Yang die Kommunistische Partei und einzelne Kader in der Zeit des "Großen Sprungs". Er porträtiert Mao als "letzten Kaiser" und skizziert - recht grob - die Differenzen zwischen chinesischer "Despotie" und westlicher Demokratie. Conclusio: Der versprochene "'Weg ins Paradies' [...] war in Wahrheit ein Weg in den Tod".

Obwohl "Grabstein" neue Details aufbereitet, ist es stilistisch und methodisch keine große Geschichtsschreibung. Es lebt vom Fleiß und vom Engagement des Autors. Dass man dennoch fassungslos zurückbleibt, ist den unerträglichen Fakten geschuldet. So unerträglich viel Leid, so viel Tod, so viel Grausamkeit - aufgrund grotesker ideologischer Borniertheit!

Besprochen von Arno Orzessek

Yang Jisheng: Grabstein - Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962
Aus dem Chinesischen von Hanns Peter Hoffmann
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012
792 Seiten, 28 Euro