Vom Amok zum Dschihad?

Wenn junge Menschen den Krieg erklären

Maskierte Jugendliche stehen am 08.10.2014 in Hamburg vor der Al-Nour Moschee. Bei einer Ausschreitungen zwischen Kurden und radikalen Muslimen sind in Hamburg mehrere Menschen verletzt worden. Foto: Markus Scholz/dpa
Maskierte Jugendliche vor einer Moschee © picture alliance / Markus Scholz
Von Tabea und André Grzeszyk · 30.06.2016
Sie sind Kinder unserer Gesellschaft und erklären dem Abendland den Krieg: Warum ziehen junge Europäer in den Djihad? Treibt sie religiöser Fanatismus? Forscher gehen der Frage nach, ob sich Erkenntnisse aus der Amok-Forschung auf den Islamismus in Europa übertragen lassen.
Ein namenloser Mann scrollt durch seine Handyaufnahmen, die er vor wenigen Minuten im amerikanischen Nachtclub "Pulse" aufgenommen hat. Es ist der 12. Juni 2016, Männer in lässigen Muskelshirts tanzen unter quietschbunter Discobeleuchtung. Plötzlich fallen Schüsse. Fünfzig Menschen sterben. Es ist der bislang größte Massenmord in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Attentäter, Omar Mateen, ein gebürtiger New Yorker mit afghanischen Wurzeln, gehörte der Demokratischen Partei an. Und er sympathisierte mit der Terrororganisation IS.

Gespenstische Aufnahmen eines Amoks

Eine Frau sitzt am 05.08.2015 auf der Insel Utøya (Norwegen) vor einem stählernen Ring, in den die Namen der Opfer der Terroranschläge eingraviert sind . Vier Jahre nach den Terroranschlägen von Anders Behring Breivik lädt die Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei (AUF) wieder zu einem Sommerlager auf der Insel Utøya ein.
Erstes Sommercamp nach dem Breivik-Attentat auf der norwegischen Insel Utoya © picture alliance / dpa / Sigrid Harms
Die Bilder aus dem Hubschrauber des norwegischen Nachrichtensenders NRK über der Insel Utøya sind verwackelt, zoomen scheinbar wahllos auf Details der verregneten Landschaft. Der Kameramann wird erst später erfahren, dass er eine Spezialeinheit der Polizei aufgenommen hat: Am 22. Juli 2011 beendet sie den Anschlag des rechtsextremen Attentäters Anders Behring Breivik auf ein Jugendlager der sozialdemokratischen Partie Norwegens. 69 Jugendliche sterben. Die Aufnahmen sind gespenstisch: Keine Schreie, keine Schüsse. Nur das monotone Rattern der Hubschrauberrotoren ist zu hören.

Leichen in der Bibliothek in der Columbine Highschool

Polizisten am Tatort der Columbine High School
Polizisten am Tatort der Columbine High School© dpa/picture alliance/Mark Leffingwell
Am 20. April 1999 fahren die beiden Schüler Eric Harris und Dylan Klebold schwerbewaffnet in die "Columbine Highschool" in Littleton. Als ihre selbstgebastelten Rohrbomben nicht zünden, ändern sie ihren Plan. Sie machen sich auf den Weg ins Schulgebäude, erschießen fünfzehn Menschen. Die Bilder ihrer Leichen in der Bibliothek gehen um die Welt.

Djihadisten sind die neuen Superhelden

Die Bilder des Terrors gleichen sich – die Überwachungsvideos des Columbine High School Massakers, Anders Breiviks Attentat auf der norwegischen Insel Utøya, die Terroranschläge in Paris, Brüssel und Orlando. Eine archaische, vermeintlich sinnlose Gewalt trifft das Herz der Zivilisation. Eric Harris und Dylan Klebold werden rasend schnell zum globalen Erfolgsmodell für nachfolgende Amok-Generationen. Nach 1999 gibt es kaum ein School Shooting, das nicht vom schaurigen "Drehbuch" der beiden amerikanischen Schüler inspiriert ist – von der Bewaffnung bis hin zu Fragen der Kleidung. Auch Anders Behring Breiviks Radikalisierung gleicht der von School Shootern, doch seine Tat wird von einer neuen Weltordnung bestimmt.
Djihadisten sind die neuen Superhelden für radikalisierte Jugendliche und junge Erwachsene weltweit. Dabei sind ihre martialischen Botschaften denen der School Shooter verblüffend ähnlich.
Ob School Shooter oder IS-Kämpfer: Warum erklären junge Menschen, die vor allem westliche Staatsbürger sind, die hier geboren und sozialisiert wurden, ihren eigenen Gesellschaften den Krieg?
Die Straßenbahn knattert über den Boulevard Leopold II, eine der Verbindungslinien zwischen Brüssel, der Hauptstadt der Europäischen Union, und der knapp 100.000 Einwohner zählenden Gemeinde Molenbeek auf der anderen Seite eines Kanals. Molenbeek gilt als "europäische Zentrale des islamistischen Terrors", die Anschläge in Paris und Brüssel sollen hier geplant worden sein.
Johan Leman, Anthropologe und ehemaliger Kabinettschef der königlichen Kommission für Migrationspolitik in Belgien, ist ein viel gefragter Mann. Seit fünfunddreißig Jahren arbeitet er in Molenbeek, und leitet dort das "Foyer" - das älteste, multi-ethnische Jugendhaus der Gemeinde. Der 70-Jährige kennt das Umfeld der islamistischen Attentäter, ihre Freunde, ihre Familien gut. Hat er eine Erklärung?
Johan Leman: "Ich kann nur sagen, als das geschah – und ich sprach viel mit jungen Männern im Jugendhaus - dass sie sagen: Ist Salah Abdeslam ein Islamist? Das ist nicht möglich! Er trank Wein, er ging in Diskotheken, er nahm Drogen, das ist kein Muslim!"

Salah Abdeslam - vom Nobody zum gesuchten Terroristen

Der 26-jährige Franzose Salah Abdeslam, ein gebürtiger Molenbeeker mit marokkanischen Wurzeln, gilt als Drahtzieher der Terroranschläge von Paris. Abdeslam fand im Schnelldurchlauf zur "wahren Religion": Gerade noch ein Nobody – und plötzlich der meistgesuchte Terrorist Europas. Mitglied des sogenannten "Islamischen Staats", der im Land der Ungläubigen Angst und Schrecken verbreitet!
Leman: "Ich denke, dass es nicht religiös ist, was passiert. Aber psychologisch gesehen, eher: Endlich bin ich jemand! Nun bin ich ein islamischer Che Guevara! Es sind einfache Jungen, die sind einfache junge Männer, sie hatten nichts Spezielles."
Mit anderen Worten: IS-Kämpfer zu werden, selbst wenn man sein Leben bei einem Anschlag verliert, bedeutet für viele junge Menschen einen sozialen Prestige-Gewinn, der ansonsten kaum denkbar wäre.
Leman: "Was man sah, ist, dass sie die Kontakte abgebrochen haben mit ihren Freunden, mit ihrer Familie, dass sie sich eingeschlossen haben mit einer kleinen Gruppe von neuen Freunden, und dann in sehr kurzer Zeit "das Licht" gesehen haben. In kurzer Zeit den 'Islam' entdeckt haben. Im Internet. Zwei, drei Prediger auf zehn Minuten, die man in YouTube finden kann, sehen sie das Licht und werden 'radikalisiert', wie das heißt."
Wenn Johan Leman von "Radikalisierung" spricht, verzieht er den Mund. Er mag den Begriff nicht, findet ihn falsch. In Belgien sei daraus ein Business geworden, mit Deradikalisierung könne man heute viel Geld verdienen. Doch ist Radikalisierung wirklich das Problem?
Leman: "Gandhi war auch radikal, Martin Luther King war radikal, Mandela war radikal. Hat ein junger Mann nicht das Recht, in der Adoleszenz zu radikalisieren? Das ist nicht das Problem, dass man radikalisiert. Das Problem ist, dass man in einer virtuellen Welt ankommt und den Unterschied nicht mehr sieht, zwischen dem Virtuellen und dem Materiell-Physischen hier, die konkrete Welt, das ist das Problem. Und dass man in eine Welt kommt, die immer mehr das Andere, das Plurale, ausschließt."
Johan Leman beschreibt, wie sich ein virtueller Schleier über die Wirklichkeit legt und IS-Kämpfer, die er als Jungen persönlich kannte, in Massenmörder verwandelt. Doch wie ist das möglich? Wie kann ein junger Mensch aus Molenbeek in einem Propaganda-Video des IS eine Leiche mit dem Geländewagen hinter sich herschleifen?

Virtuelle Welt spielt Rolle bei Verwandlung

Normale, unscheinbare Jugendliche, die plötzlich exzessive, unmenschliche Gewalt ausüben – das ist das Profil des School Schooters. Bei ihrer Verwandlung spielt die virtuelle Welt die entscheidende Rolle.
Als Eric Harris und Dylan Klebold 1999 an der "Columbine Highschool" Amok liefen, waren sie noch vor den Abendnachrichten für viele Gleichgesinnte am heimischen PC zu Ikonen geworden. Auch für Christoph Szumelda aus Hamburg, der während seiner Schulzeit kurz davor stand, zum School Shooter zu werden. Eine Reise nach Littleton zur "Columbine Highschool" sollte sein Abschiedsgeschenk an sich selbst sein, ehe er in den Tod geht. Eine Reise zum Schauplatz jenes Ereignisses, das sein Leben für immer verändert hatte und an dem seine Helden gestorben waren. Nicht nur für ihn wurden Eric Harris und Dylan Klebold zu buchstäblichen Vorbildern.
Christoph Szumelda: "Dadurch, dass die Presse sehr aggressiv damals vorging und wirklich alles über die recherchierte und sofort auch publizierte, hatte man die Möglichkeit, sich so seine eigene Welt nachzubauen, die Eric und Dylan damals vorgelebt haben. Man hatte Live-Bild, man hatte die Möglichkeit, sich aus diesen Videos kleine Videos nochmal zurechtzuschneiden und eine Art 'Musikvideo' daraus zu bauen. Mit dem Aufkommen von YouTube ist es dann auch so weit gekommen, dass viele Leute dann diese Videos online gestellt haben und sich so auch versammelt haben."
Christoph Szumelda spricht offen über seine Vergangenheit. Der 31-Jährige beschreibt, wie er als Schüler stundenlang vor dem Bildschirm obsessiv Gewaltvideos konsumierte, um sich daran zu gewöhnen. Sein tägliches Training, um dem übergeordneten Ziel, sich selbst in einen School Shooter zu verwandeln, näher zu kommen.
Szumelda: "Zu der Zeit habe ich versucht, mich so weit wie möglich von den Menschen zu distanzieren, sie nicht mehr als Lebewesen wahrzunehmen, sondern eben, dass es Objekte sind. Das macht es auch einfacher, die Menschen zu verletzen und keine Reuegefühle zu entwickeln."

Omnipräsente Gewaltbilder aus dem Internet

Voraussetzung dafür werden explizite Gewaltbilder, die vor allem mit der Etablierung des Internets omnipräsent und jederzeit frei verfügbar sind.
Szumelda: "Es gab damals eine bestimmte Seite, die gibt’s mittlerweile nicht mehr, die ist in einer anderen Seite aufgegangen, Live-Leak heißt die jetzt mittlerweile. Und dort hatte man damals schon relativ aggressive und intensive Videos gesehen. Eins der bekanntesten war, wo man einen Soldaten gesehen hat, der den Kopf irgendwie seitlich angelehnt bekommen hat und ein Messer ihm - ja - den Hals aufgeschnitten hat. Das war eines der Bekanntesten und in diesem Spektrum gab es jede Menge Videos, nur natürlich nicht qualitativ hochwertig, so wie es jetzt jede Menge gibt."
Vergleicht man die Tötungsvideos mit den in Serie produzierten Enthauptungsvideos heute, wird der Quantensprung deutlich. Ein Beispiel unter vielen: Ein unbeschreiblich brutales Propagandavideo, in dem der damalige IS-Kämpfer Abu Talha al-Almani auftritt. Das ist der Kampfname des ehemaligen Rappers Denis Cuspert alias Deso Dogg aus Berlin. Mit seinen Videobotschaften stieg Talha al-Almani schnell zum Vorbild und bislang erfolgreichsten deutschen Rekrutierer des 'Islamischen Staats' auf.

Rapper aus dem Wedding enthauptet Mann

Die Tonspur ist ausgeschaltet, als die Geisel durch einen Kopfschuss stirbt. In Großaufnahme wird der Mann enthauptet, Schnitt für Schnitt. Das Blut fließt aus seiner Kehle in den trockenen Wüstenboden. Talha al-Almani tritt ins Bild. Der Weddinger Junge mit schwerer Kindheit ist weit gekommen.
Schon 2012 setzt sich Denis Cuspert nach Ägypten ab, um in den "Heiligen Krieg" zu ziehen. Aus dem Ausland schickt er Videobotschaften, in denen er mit Anschlägen in Deutschland droht. Wahrscheinlich wurde er 2015 im Kampf im syrischen Raqqa getötet, doch sein digitaler Nachlass ist bis heute auf LiveLeak frei verfügbar. Um die härteren Videos zu sehen, muss man per Mausklick bestätigen, volljährig zu sein.
Bei den Videos wird die ganze groteske Abartigkeit dieses angeblich "heiligen Krieges" deutlich. Aber wie wird der Deutschrapper Denis Cuspert, der noch 2008 in einer Doku-Soap bei RTL II aufgetreten ist, zum Henker einer Terrormiliz? Wie kann es gelingen, derartige Gewaltexzesse zu legitimieren?
Im dritten Hinterhof eines rotgestrichenen Miethauskomplexes in Berlin-Moabit liegen die Büroräume des "Violence Prevention Networks". Thomas Mücke, Vorstand des Netzwerks, betritt den Raum. Sein Wissen ist in Deutschland gefragt wie nie zuvor. Thomas Mücke kannte Dennis Cuspert alias Deso Dogg schon als Jugendlichen.
Thomas Mücke: "Deso Dogg war jemand gewesen, der nie Verantwortung in seinem Leben übernommen hat. Er hat immer die Verantwortung von sich weggeschoben, entweder war es Gott, oder er ist Opfer dieser Gesellschaft gewesen, in dieser Opferrolle drin gewesen. Es ist nie der Punkt, wo irgendeiner seiner Veröffentlichungen erkennen kann: Das habe ich getan, dafür trage ich persönlich die Verantwortung. Das ist immer von einer oberen Instanz geleitet."

Terroristen schreiben eigene Lebensgeschichte neu

Thomas Mücke widmet sich seit siebenzwanzig Jahren der Deradikalisierung, er hat mit dem Begriff weniger Probleme, als sein belgischer Kollege Johan Leman. Zunächst arbeitet er mit Rechtsextremen, seit 2008 mit religiösen Extremisten. Eine Berufserfahrung, die man Thomas Mücke in jeder Silbe anmerkt. Sie hat seine Wahrnehmung für Muster in den Radikalisierungswegen verschiedener Gruppen geschärft.
Mücke: "Diese Jugendlichen haben biografische Verletzungen und sie schreiben ihre Lebensgeschichte neu. Nämlich in eine positive Richtung, die Lebensgeschichte davor kann sehr negativ gewesen sein. Und jetzt schreiben sie neu, 'ich habe jetzt das Gefühl, ein richtiges Leben zu führen. Und erfolgreich daran teilhaben zu können, an der richtigen Sache'."
Das gleiche Motiv gilt auch für School Shooter: "Ich wurde Gott ähnlich", darauf beruft sich Bastian Bosse, der 2007 an der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten Amok lief und in seinem selbstproduzierten Abschiedsvideo detailversessen die Umdeutung der eigenen Vergangenheit betreibt. In den 2000er Jahren entstand das Abschiedsmanifest als neues Genre, in dem School Shooter die Gründe für ihre Taten darlegen und ihre Lebensgeschichten aus einer Perspektive nach der Tat neu erzählen. Die Bekenntnisse werden auf YouTube gepostet, an Freunde verschickt. Bei School Shootern beginnt die Radikalisierung im Netz. Am Ende wird das eigene Leben eingetauscht gegen die Unsterblichkeit des eigenen Bildes in der virtuellen Welt.

Amokläufer sieht sich als Rächer der Entrechteten

Der notorische Einzelgänger Seung Hui Cho spricht in seinen Videobotschaften von einer imaginären Gemeinschaft, für die er seine Taten verübt. Der Student, der 2007 an der Universität Blacksburg zweiunddreißig Menschen tötet, wollte damit "Generationen von schwachen und wehrlosen Menschen" inspirieren. School Shooter sehen sich als "Rächer der Entrechteten". Ihr Hass richtet sich gegen die Leistungsgesellschaft, das Kastensystem an den Highschools. Dieses Lebensgefühl hat auch die Diskussionen der Columbine-Sympathisanten in Deutschland bestimmt – sogar bis in die amerikanische Terminologie hinein.
Christoph Szumelda: "Die meisten School Shooter sind Menschen, die ihr Leben lang gemobbt wurden oder unter bestimmten Gruppierungen wie den Jocks, den Sportlern, gelitten haben oder der breiten Masse nicht genügt haben. Also Menschen, die von der Gesellschaft, also zumindest zur Schulzeit, als 'Looser' gesehen werden. Natürlich hoffte man dann, das Ganze zu verändern und den Leuten so ein bisschen klarzumachen, dass diese Klischeebilder von Einzelgängern, die sich radikalisieren und schlecht sind, nur ein Klischeebild sind. Dass das eigentliche Problem ist, dass immer weggeschaut wird, wo zum Beispiel sich lustig gemacht wird über Dickere, über Menschen, die anders aussehen, über Menschen, die nicht den Massenmedien unterliegen, oder dem Massenandrang unterliegen und genau das gleiche machen wollen, wie alle anderen."
Das Gefühl, zu den Unterdrückten zu gehören, wird bei School Shootern zum Kampf gegen die Gesellschaft erhöht und letztlich zur Legitimation exzessiver Gewalt benutzt. So erklärt es Nils Böckler, Wissenschaftler an der Universität Bielefeld und Mitarbeiter des Forschungsverbundes "TARGET. Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt".
Nils Böckler: "Zunächst stellen sie sich erst mal dar als die Opfer: wir haben eigentlich immer probiert, zur Gesellschaft dazuzugehören, ihr wolltet uns nicht dazugehören lassen - so und jetzt definieren wir uns um. Vom Opfer zum Täter, der seine Tat aus einer Verteidigungsposition heraus begeht, und gleichzeitig seine Tat auch noch für eine höherwertige Idee, für eine Ideologie begeht, um sich dann in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft einzubrennen."

Mord wird zu rationalem Verhalten erklärt

Die Rationalisierung für das eigene Morden scheint mitunter beliebig und ist dennoch substantieller Teil der Tat. Es geht niemals "nur" um die nackte Gewalt. Religiöse, politische und persönliche Motive bilden ein unentwirrbares Konglomerat der Legitimation von Gewalt. School Shooter erklären der Leistungsgesellschaft den Krieg, die sie zu "Loosern" abstempelt. Dschihadisten erklären "dem Westen" den Krieg, der die globale Gemeinschaft der Muslime "unterdrückt". Die Inhalte mögen verschieden sein, der Mechanismus bleibt derselbe.
Böckler: "Wenn man sich Ideologien anguckt, dann bestehen die eigentlich immer aus denselben Elementen: Zum einen haben wir das Schwarz-Weiß-Denken. Also ich kann Komplexität, soziale Komplexität reduzieren. Ich weiß genau, wer mein Freund ist, ich weiß, wer mein Feind ist. Ich bekomme Möglichkeiten von dieser Ideologie zur Selbstdarstellung. Und dann haben wir natürlich diese übergeordnete Zielvorstellung, die mir so einen vermeintlichen Sinn im Leben gibt. Oder mir zumindest, wenn ich den Lebenssinn verloren habe, mir signalisiert, für was es sich zu sterben lohnt."
Zeigen diese Elemente Risse, gerät auch die Legitimation der Gewalt ins Wanken. Christoph Szumelda hat sich jahrelang darauf vorbereitet, an seiner Hamburger Schule Amok zu laufen – dennoch hat er seinen Plan letztlich verworfen. Weil zu viele Grautöne in das Schwarz-Weiß-Denken geraten sind.
Szumelda: "Das hat sich natürlich dann über die Jahre verändert dadurch, dass ich vor Ort gewesen bin und mir zum Beispiel Erfurt angesehen habe oder in der Columbine Schule unterwegs war und mit den Leuten gesprochen habe, mit den Verwandten von den einzelnen Opfern. Das macht’s ein bisschen schwieriger, in so eine Ebene zu kommen, wo du dich dann nicht mehr distanzieren kannst von anderen Menschen. Das habe ich versucht, bin aber irgendwann davon weggekommen."
Ende der 2000er Jahre verliert das Narrativ der School-Shooter weltweit an Kraft. Die jugendlichen Amokschützen wollen als politische Attentäter verstanden werden. Das rückt sie immer stärker in die Lebenswelt der Djihadisten. Die ideologischen Fronten werden neu gezogen.

Seiersand attestiert Breivik eine große Nähe zu Djihadisten

Im Foyer eines gediegenen Berliner Hotels sitzt die norwegische Journalistin und Bestsellerautorin Åsne Seierstad auf einem Ledersessel und trinkt entspannt Kaffee. Vor den Fenstern geht ein heftiger Regenschauer nieder, während Åsne Seierstad in ein grünes Sommerkleid gekleidet über ihr neues Buch spricht: "Einer von uns – Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik". In dem sie Breivik eine große Nähe zu Djihadisten attestiert.
Åsne Seierstad: "Seine Planungen, seine Methoden sind inspiriert von Al-Quaida – das schreibt er selbst in seinem Manifest. Wie er im Verborgenen bleibt, von langer Hand plant und seine Ideologie entwickelt, rückt ihn in die Nähe islamischer Extremisten. Für ihn geht es um 'weiße Herrschaft', für sie um 'sunnitische Herrschaft'."
Gleichzeitig finden sich in Breiviks Biografie die wesentlichen Merkmale von School Shootern: Wie die Columbine-Attentäter gibt Breivik seinen Waffen einen Namen, zimmert sich über Jahre hinweg im Copy-Paste-Verfahren ein Weltbild zusammen, das ihn zur Tat drängt und sie legitimiert. In den einsamen Stunden der Planung imaginiert sich der heute 37-Jährige eine Bruderschaft der Tempelritter, deren Anführer er zu sein meint. Breivik erfindet, was ihm im Leben versagt geblieben ist, so Åsne Seierstad:
Seierstad: "Ich glaube, es war extrem wichtig, eine Gang zu haben, weil er immer nach einem Ort der Zugehörigkeit gesucht hat. Er wollte etwas anführen, weil er ein König sein wollte. Das ist der verrückte Aspekt seiner Persönlichkeit, wie er die Tempelritter und deren Treffen in London erfindet."
Mit Breivik schließt sich der Kreis zum "Krieg der Kulturen und Religionen", in dem auch die islamistischen Terrororganisationen kämpfen. Die Gewalt der School Shooter gegen das System weitet sich zum vermeintlichen Kampf zwischen "Christentum und Islam” aus. Radikale aus den unterschiedlichsten Kontexten treffen sich auf demselben imaginären Schlachtfeld wieder. Die Ziele werden letztendlich austauschbar, glaubt Åsne Seierstad:
"Er schreibt, dass Muslime konvertieren müssen – andernfalls werden sie deportiert oder getötet. Genau das gleiche sagt der "Islamische Staat”. Sie ähneln sich auch in der äußerst faschistischen Vorstellung einer Säuberung der Gesellschaft. Der IS will die Juden und die Christen loswerden, er die Muslime."
Einfache Schwarz-Weiß-Weltbilder, Märtyrertum und der ultimative Wunsch, jemand zu sein, werden zu den letztgültigen Koordinaten des individuellen Lebensglücks – wenn auch auf verschiedenen Seiten. Die gemeinsame Basis aller Radikalen sei die Sehnsucht, kein "Looser” zu sein, die brennende Sehnsucht nach Bedeutung. Auch im Fall von Anders Breivik.
Seierstad: "Bedeutung. Identität. Darum geht es bei den Leuten, die sich dem Jihad anschließen. Das klingt sehr nüchtern, aber ich denke, darum geht’s. Aber auch bei den europäischen Jihadisten, die nach Syrien gehen, wahrscheinlich auch bei denjenigen, die sich neofaschistischen Gruppen anschließen, geht es um Bruderschaft, Identität, Zugehörigkeit und Bedeutung."

Wie viele Morde braucht es, um berühmt zu werden?

Diese Sehnsucht wird ins Unermessliche gesteigert: In der Zeit der Vorbereitung seiner Anschläge kalkulierte Anders Breivik genau, wie viele Menschen er töten muss, um es zu globaler Berühmtheit zu bringen. Die Gier nach Ruhm kennt keine ideologischen Grenzen, das weiß auch der Psychologe Nils Böckler:
Böckler: "Bei Breivik oder bei terroristischen Einzeltätern haben wir dann noch diesen medialen Effekt, dass man sich dadurch wirklich in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft einbrennen kann, wenn man beispielsweise die Boston Marathonbomber vor Augen führt, wo es dann der Jüngere der beiden Brüder, der überlebt hat, auf das Cover des Rolling-Stone-Magazine geschafft hat."
Eric Harris und Dylan Klebold, Seung Hui Cho, Bastian Bosse, Anders Breivik, Dennis Cuspert, Salah Abdeslam, Omar Mateen, sie alle haben es in die Medien geschafft, oft auf die Titelseite.
Böckler: "Also auf der einen Seite habe ich die Gruppe, die mir klar vorgibt, wofür es sich zu leben lohnt, wofür es sich zu kämpfen lohnt, wie ich die Gesellschaft einzuschätzen habe, die mir das Schwarz-Weiß-Denken an die Hand gibt - und auf der anderen Seite diese Möglichkeit, wer zu werden. Entweder in der Gesellschaft oder in dieser radikalen Gemeinschaft als Märtyrer geheiligt zu werden, oder von der westlichen Gesellschaft dann als ein 'Idol of Destruction' stilisiert zu werden."
"Idol der Zerstörung", dieser Ehrentitel ist auch dem einzigen Überlebenden der Paris-Attentäter, Salah Abdeslam aus Molenbeek, zuteil geworden. Auch wenn sich der Nimbus des ultimativ Bösen allmählich abnutzt: Bei seiner Auslieferung nach Frankreich wird Salah Abdeslams belgischer Anwalt Sven Mary mit den Worten zitiert, sein Mandant sei "dumm wie ein leerer Aschenbecher", der den Koran nur als Zusammenfassung aus dem Internet kenne und der glaube, er lebe im Videospiel "Grand Theft Auto". Letzteres könne man wortwörtlich verstehen, meint der Psychologe Nils Böckler.
Böckler: "Es gibt ja dieses berühmte Video vom Islamischen Staat, wo er sich auf das Videospiel "Grand Theft Auto" bezieht. Also wo der Protagonist so mordend und stehlend durch die Straßen zieht. Der IS versieht das dann mit dem Spruch: Was du eigentlich täglich in deinem Kinderzimmer spielst, das erleben wir hier tagtäglich auch auf dem Schlachtfeld."

Absolut böse oder einfach psychisch krank?

School Shooter werden in westlichen Gesellschaften als psychisch Kranke verstanden, die nach ihren Taten zumeist in der Psychiatrie landen. Die Wahrnehmung westlicher IS-Kämpfer heute schwankt zwischen dem "absolut Bösen" bis zum "Analphabeten". In beiden Fällen gilt: Ihre Gewalt stellt das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften nicht infrage. Genau das sieht der Leiter des Molenbeeker Jugendzentrums "Le Foyer", Johan Leman, als fatales Missverständnis:
Johan Leman: "Das Phänomen der Radikalisierung an sich ist sehr komplex. Wenn wir es nicht lösen, werden wir später andere Phänomene mit anderen Bevölkerungsgruppen sehen, in denen es nicht um den Islam geht. Wenn wir die Situation nicht verändern, das strukturelle Problem nicht verändern, könnte es in zehn Jahren etwas anderes sein."
Das strukturelle Problem: Der Fakt, dass eine kapitalistische Leistungsgesellschaft Menschen in "Gewinner" und "Verlierer" aufteilt. Dass es in einem solchen System "Verlierer" gibt, die exzessive Gewalt als legitimes Mittel der Selbstverteidigung betrachten. Und dass gesellschaftliche Ausgrenzung ein Schwarz-Weiss-Denken fördert, ohne das weder School Shooter noch Dschihadisten auskommen. Kurz: Dass das Problem auch mit uns, den westlichen Gesellschaften, zu tun hat.
Von Columbine bis Brüssel ziehen junge Menschen in den Krieg und radikalisieren sich anhand wandelnder Bilder und Geschichten. Die Wahl der Vorbilder scheint mitunter beliebig, die Konsequenzen sind immer tödlich. Für Johan Leman steht fest: Um junge Menschen vom Töten abzuhalten, muss sich vor allem hier etwas verändern – in den westlichen Ländern selbst.
Leman: "Um zu 'deradikalisieren' im Sinne der Behörden, dafür müsste man nach meiner Meinung und Erfahrung im Jugendzentrum 'Le Foyer' den jungen Menschen hier eine Zukunft bieten. Wenn sie für sich eine Zukunft entdecken, ist das Virtuelle ein Weg dorthin und keine Flucht. Erst dann 'deradikalisieren' wir in einem Sinne, wie es die Behörden wollen."
Mehr zum Thema