Victor Klemperers Nachkriegstagebücher (1/4)

"Quallenhaftes und die üblichen Phrasen" - Juli 1945

Blick auf das ehemalige Wohnhaus von Victor Klemperer in Dresden. Die 1995 erschienenen Tagebücher "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" von Victor Klemperer gelten als eine der eindrücklichsten Schilderungen des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945.
Blick auf das ehemalige Wohnhaus von Victor Klemperer in Dresden. © picture alliance / dpa / Matthias Hiekel
Gelesen von Gerry Wolf · 05.07.2015
Es scheint wie im Märchen, als Eva und Victor Klemperer das zerstörte Dresden verlassen und zu ihrem Haus in Dölzschen hinaufsteigen. Sie haben überlebt: die Erniedrigungen, den Terror, den Verrat, das "Judenhaus". Victor Klemperer erhofft einen Neubeginn für sich und für Deutschland.
Victor Klemperer und seine Frau Eva haben die Herrschaft der Nationalsozialisten überlebt, die Bombardierung Dresdens und viele gefährliche Situationen auf ihrer Irrfahrt durch das zerfallende Hitlerreich. Am 10. Juni 1945 kommen sie zurück nach Dölzschen, einem Stadtteil von Dresden.
In der ersten Nacht nimmt sie ein Nachbar, der "brave Kalau", auf. Am 11. Juni schlafen sie schon im eigenen Haus. Victor Klemperer kommt die Rückkehr nach fünf Jahren wie ein "Wachtraum" vor, "wir leben seitdem in einer Märchenwelt, einer komischen, imaginären und doch höchst realen, aber etwas unsicheren Welt".
Höchst real sind die teilweise kriecherischen Annäherungsversuche von ehemaligen Parteigenossen, die einen Persilschein wünschen. Klemperer liest in seinen Tagebüchern der letzten Jahre und den Aufzeichnungen über die Sprache des Dritten Reiches, er verfolgt die Nachrichten und zweifelt bei aller Sympathie an den Kommunisten. Sie sind ihm zu wenig intellektuell. Dann klagt er über Hunger und die Russenzeit, man stehe zu spät auf. Nicht nur das Komische und das Reale, auch das Ungewöhnliche und das Alltägliche liegen in der Dölzschen Märchenwelt nahe beieinander.

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