Verkehrswissenschaftler will "Bürgerticket" für alle

15.01.2013
Soll eine Bahn-Fahrt von Hamburg nach München kostenlos sein? Wie sehen die Perspektiven des öffentlichen Verkehrs aus? Der Wissenschaftler Heiner Monheim spricht sich für eine Finanzierung durch alle Bürger aus - mit dann kostenlosen Fahrten in allen öffentlichen Verkehrsmitteln.
Dieter Kassel: Für die Einwohner der estnischen Hauptstadt Tallinn ist der öffentliche Personennahverkehr seit Anfang des Jahres kostenlos, man muss sich nur ein einziges Mal registrieren, und dann kann man fahren, so oft man will und wann man will und zahlt nichts. Das findet auch so mancher in Deutschland attraktiv, diese Vorstellung, einfach rein zu hüpfen in die U-Bahn, den Bus, die Straßenbahn, die S-Bahn und zu fahren, und das war es dann.

Klingt natürlich auch einfach und nett, aber wäre das wirklich sinnvoll, finanzierbar und logistisch machbar in Deutschland? Darüber wollen wir jetzt mit Heiner Monheim sprechen. Er ist Professor für angewandte Geografie und Raumentwicklung an der Universität Trier, und der öffentliche Personennahverkehr ist seit Jahrzehnten eines seiner Themen. Schönen guten Tag, Herr Monheim!

Heiner Monheim: Schönen guten Tag!

Kassel: Ist das für Sie ein reizvoller Gedanke, diese Vorstellung, dass man teilweise in einigen deutschen Städten oder vielleicht sogar im ganzen Land einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr hätte?

Monheim: Ja, BahnCard 100 für alle wäre dann das Motto – jein, muss ich sagen. Wenn man es so wie in Tallinn machen würde, dann käme ja kein Geld mehr in die Kassen. Der öffentliche Verkehr braucht aber nicht weniger Geld, sondern mehr Geld. Und deswegen ist das Bürgerticket die richtige Lösung, also ein beitragsfinanzierter Nulltarif, wo im Prinzip es so ähnlich einfach wie in Tallinn geht: Man zahlt einmal im Jahr umlagefinanziert einen sehr günstigen Preis, viel günstiger als heute wie Jahresabos oder gar die BahnCard 100 ist, aber das wird dann millionenfach, um nicht zu sagen, 70.000.000-, 75.000.000-mal gekauft im ganzen Land, und das beinhaltet dann die Fahrt auf allen öffentlichen Verkehrsmitteln einschließlich Intercity, ICE, Fähren, was es auch immer gibt.

Und das wäre eine sehr gute Lösung, das hat schon vor vielen Jahren die Stadt Hasselt angefangen, das ist ein beitragsfinanzierter Nulltarif, viele Kurorte machen das, viele Schweizer Orte machen das, und dann kommt mehr Geld in die Tasche, und Deutschland hat damit auch durchaus schon Erfahrungen, weil ja an fast allen deutschen Hochschulen Semestertickets eingeführt wurden, und das sind beitragsfinanzierte Nulltarifmodelle.

Kassel: Aber was ist wirklich der Vorteil? Wenn Sie dieses beitragsfinanzierte Modell haben, dann muss jeder zahlen, ob er am Ende fährt mit den Öffentlichen oder nicht.

Monheim: Ja.

Kassel: Das wäre ja beim völligen Kostenlosmodell auch so, denn kostenlos ist ja eigentlich ohnehin Unsinn, das wäre es ja dann immer noch nicht, es wird ja dann von den Steuerzahlern finanziert.

Monheim: Ja, aber der Unterschied ist, dass Bund, Länder, Regionen und Gemeinden nicht willens sind und wohl auch nicht in der Lage sind, das dafür erforderliche Geld – Sie müssen sich immer vorstellen, wenn plötzlich zehnmal mehr Leute mit dem öffentlichen Verkehr fahren, dann brauchen Sie mehr Busse, Sie brauchen mehr Bahnen, sie müssen investieren, und irgendwo muss das Geld herkommen.

Also, man könnte theoretisch sagen, wir machen das alles steuerfinanziert, aber dann würde auf den Finanzminister des Bundes und auf die Finanzminister der Länder und auf die Kämmerer der Städte ein erheblicher Mehraufwand kommen. Und deswegen ist es viel sinnvoller, die Bürger zahlen das selber, identifizieren sich dann auch mit dem öffentlichen Verkehr und nutzen ihn dann auch.

Diese Erfahrung haben wir seit mittlerweile 20 Jahren mit den Semestertickets gemacht, da haben sich massenhaft Studenten umorientiert, so ein Solidarticket, jeder zahlt, und fast alle nutzen es auch. Und ganz viele Studenten haben ihre Autos abgeschafft, die sie bis dahin hatten, in den Hochschulorten wurde der öffentliche Verkehr ganz massiv verbessert durch das Geld, was in die Kassen kam, und jetzt muss man gewissermaßen alle Bürger zu Studenten machen, beziehungsweise man muss eben ein Bürgerticket einführen.

Kassel: Das heißt, Sie sind auch der Meinung, durch dieses Bürgerticket hätte man ein Problem, das manche befürchten bei einem kostenlosen Nahverkehr, nämlich das Problem, dass plötzlich kein Geld mehr da ist, das in die Infrastruktur gesteckt werden kann, dass der Fuhrpark veraltet, dieses Problem hätte man dann nicht?

Monheim: Das hätte man dann nicht – wir haben Erfahrung mit dem Nulltarif. Schon in den späten 70er-Jahren hat die Stadt Bologna in Italien – eine sehr große, eine sehr schöne Stadt – einen echten Nulltarif eingeführt. Das führte auch zunächst zu massiven Umsteigebewegungen, dann fehlte aber das Geld, die nötigen Busse zu kaufen, und dann fuhren da nur noch Rostlauben rum.

Und dann haben die Leute natürlich sehr schnell gesagt, nein, mit Rostlauben wollen wir nicht mehr fahren. Also dieser echte Nulltarif hat sich da als ziemlicher Schuss in den Ofen erwiesen, während die Semestertickets und das Hasselt-Modell, also ein beitragsfinanziertes Modell, sich als äußerst attraktiv erweisen. So ähnlich funktionieren ja in Deutschland heute schon die Jobtickets, also da gibt es eine Flatrate.

Wenn viele Leute, wenn alle Leute öffentlichen Verkehr kaufen wollen, dann kann man in der Massenlogik, in der Massenkonsumlogik natürlich den Preis erheblich senken, und das übliche Argument - ich würde ja gerne Bahn fahren, aber die ist mir viel zu teuer, das kann ich mir nicht leisten, ich muss leider weiter mit meinem Porsche fahren –, dieses Argument ist dann weg.

Kassel: Nun haben Sie Hasselt mehrmals erwähnt, das ist eine mittelgroße Stadt in Belgien. Belgien ist schon ein kleines Land, aber wir reden nicht mal über ganz Belgien, wir reden über Hasselt. Habe ich Sie richtig verstanden, dass aber dieses Beitragsmodell, das Sie für Deutschland favorisieren, wäre doch ein deutschlandweites, dass heißt, wenn ich das ...

Monheim: Das wäre ein deutschlandweites Generalabo – wir haben in der Schweiz ein vergleichbares Generalabo, das hundertmal mehr im Umlauf ist als unsere deutsche BahnCard 100. Dieses Generalabo gilt auf allen öffentlichen Verkehrsmitteln in der Schweiz, einschließlich Bergbahnen, Schiffe, Fähren, was es da alles gibt, Postbus, SBB, kantonale Bahnen, und das ist sehr populär.

Man kann da auch nichts mehr falsch machen, Sie steigen einfach blindlings ein. Der Kampf mit den Automaten, den gibt es da nicht mehr, und die Bahnen und die öffentlichen Verkehrsbetriebe können endlich wieder richtig investieren, weil ganz viel Geld in die Kassen kommt.

Kassel: Aber wenn Sie - und das müssten Sie dann ja -, wenn Sie mit diesem Ticket sowohl die S-Bahn in München als auch den Regionalbus in Lüchow-Dannenberg und sonst was finanzieren wollen, was für einen Preis würden Sie denn da ansetzen pro Zahler?

Monheim: Na ja, wir differenzieren mal erste und zweite Klasse, wir kommen in der zweiten Klasse in irgendeine Größenordnung von 1200, 1300 Euro im Jahr, das aber, sagen wir mal, weil wir die Säuglinge nicht mitzahlen lassen wollen und weil es natürlich immer noch die Sozialmöglichkeiten geben muss – es gibt ja Leute, die fahren umsonst auf Sozialticket öffentlichen Verkehr –, aber die große Masse würde bezahlen, und diese große Masse würde dann, sagen wir mal, 70.000.000-mal diesen Betrag in die Kasse bringen.

Wir bekommen dann viele, viele neue Milliarden in die Kasse. So, und in der ersten Klasse mag das doppelt so viel kosten, und dann haben Sie ein ganz attraktives Universelles. Das ist der Schlüssel zur Mobilität, das ist die Zukunft, die Bahnen können endlich wieder Personal einstellen, Service-Personal – wir haben demografischen Wandel, ältere Menschen brauchen sehr oft Hilfe, wenn sie unterwegs sind –, und wir können aussteigen aus der Autogesellschaft. Das ist das Ziel: raus aus dem Autoland Deutschland.
Kassel: Aber wenn ich das jetzt mal im Kopf nachrechne und sie richtig verstanden habe, wird ja jeder, der den normalen Preis zahlt, im Monat so um die 150 bis 170 Euro zahlen. Heute gibt es Leute, die sagen, 60 Euro für eine Monatskarte ist mir schon viel zu viel, da fahre ich lieber Auto.

Monheim: Ja, aber da ist noch mal die Logik. Sie bekommen jetzt Mobilität im ganzen Land. Wenn Sie bisher eine normale Monatskarte zahlen, dann kriegen Sie diese Monatskarte je nach dem, ob es ein Verbundsystem gibt in Ihrem Verkehrsverbund, wie auch immer er heißen mag, und das dürfen Sie nicht benutzen im Intercity, nicht im Fernverkehr, sobald Sie in den Nachbarverbund fahren, wird es kompliziert – also wir machen den öffentlichen Verkehr ganz einfach.

Wir könnten uns sogar eine Europavariante davon vorstellen: Da zahlen Sie dann noch mal ein bisschen was drauf, und dann gilt das auch europaweit. Also es würde eine richtige Investitionslawine losgetreten und der öffentliche Verkehr würde wieder zur Basis aller motorisierten Mobilität.

Kassel: Aber das ist ein bisschen auch Fantasie, denn Sie wissen schon, dass die Auto-Lobby wahrscheinlich diese Vorstellung nicht so schön findet und wahrscheinlich sofort Zahlen liefern wird, dass das nicht funktioniert.

Monheim: Nein, die Autolobby findet das ganz toll. Daimler, wenn Sie mal fragen, macht Car2go. Selbstverständlich ist Carsharing in diesem Dingen auch integriert. Selbstverständlich sind Leihfahrräder integriert. Das ist eine universelle Mobilitätskarte, und man kann darüber streiten, wie wir mit Taxen verfahren, ob wir gewissermaßen die Taxen voll integrieren in das System, oder ob Sie bei der Taxinutzung halt nur den halben Preis zahlen, aber jedenfalls ist die Zielsetzung Mobilität so einfach und preiswert und so gut wie möglich zu machen.

Kassel: Glauben Sie, dass sich dann automatisch – oder müssten wir das vorher machen – auch ein bisschen das Image des ÖPNV verändert? Sie haben ja die Schweiz schon erwähnt, und mir geht es immer so, wenn ich in der Schweiz zum Beispiel in der Straßenbahn sitze, dann sitzt da wirklich mit mir zusammen ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung, also soweit man das auf den ersten Blick beurteilen kann.

Monheim: Ja, da sitzt der Banker und der Chefmanager und der Opernchef, die sitzen da alle.

Kassel: Und das ist in Köln oder gar in einer kleinen Stadt mit einem relativ schlechten Angebot dann plötzlich nicht so? Das ist ja auch eine Imagefrage.

Monheim: Ja, aber das Angebot wird ja besser. Also wir sind doch in einem Teufelskreis: Wir haben zu wenig Geld, also haben wir ein schlechtes Angebot, also schimpfen wir alle über den öffentlichen Verkehr, also fahren wir alle Autos. Aus dem Teufelskreis müssen Sie rauskommen. Und das geht nur, wenn Sie das Angebot verbessern, das kostet, und jetzt müssen Sie sich fragen, wo kommt das Geld her? Das ist eine Solidarlösung. Das ist übrigens so ähnlich wie bei der Krankenkasse zahlen Sie auch, egal ob Sie gesund oder krank sind.

Sie versichern damit Ihr Risiko, einmal krank zu werden. So, und hier machen Sie eine solidarische Mobilitätslösung mit einem Bürgerticket, und Sie können das, wenn Sie wollen, wenn wir jetzt darüber reden, wie man das einführt, dann können Sie sich vorstellen, dass sich dafür Bürgervereine gründen, Sie könne sich natürlich auch vorstellen, dass die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister das Geschäft selber in die Hand nehmen – da gibt es viel Varianten –, jedenfalls ist dieses Thema seit drei Jahren in der deutschen Debatte. Und man muss deutlich sagen, es ist kein Nulltarif, man kriegt nichts geschenkt, sondern es ist eine universelle Flatrate-Logik.

Kassel: So beliebt Flatrates zum Teil auch inzwischen sind – was sagen Sie denn den Leuten, die sagen, ich wohne in einer übersichtlichen Stadt, ich bewege mich mit dem Fahrrad und zu Fuß und fahre einmal im Jahr mit dem Zug 100 Kilometer, dafür will ich nicht im Jahr 2000 Euro zahlen?

Monheim: Natürlich können Sie sagen, für jemand, der weniger mobil ist, ist so ein einheitliches Ticket, so ein Bürgerticket, vielleicht unfair, so wie für jemanden, der immer gesund ist, ein Krankenkassenbeitrag unfair ist, weil er ja immer gesund ist. Ziel der Solidarlösung ist, überall gut aufgestellt zu sein im öffentlichen Verkehr, eine Investitionswelle loszutreten.

Kassel: Was schätzen Sie unter günstigsten Umständen, wie bald könnte es soweit sein, dass ein System, das dem von Ihnen beschriebenen mindestens ähnlich ist, tatsächlich eingeführt wird?

Monheim: Also wenn der politische Wille da wäre, dann hätten wir das in fünf Jahren. Die Semesterticketeinführung hat ein halbes Jahr gedauert, das kann man, wenn man will, relativ schnell machen. Die Investitionen dauern ein bisschen länger, wenn Sie mal 1000 neue Straßenbahnen kaufen wollen, da brauchen Sie ein bisschen, bis die gebaut sind.

Kassel: In Tallinn ist der öffentliche Personennahverkehr seit Anfang des Jahres für alle Einwohner der Stadt völlig kostenlos. Das ist nicht unbedingt in dieser Form ein Vorbild für Deutschland, aber Lösungen, die anders aussehen als die bisherigen, die sind möglich, zumindest laut Professor Heiner Monheim von der Universität Trier. ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!


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