Unverhohlen liebende Sprache

28.08.2012
Ein Mann, fast schon am Ende, findet zu neuer Lebenslust, entbrannt von der Liebe zu einer unbekannten Frau. Das sich anschließende Wiederfinden beschreibt die Autorin in selten erlebter Intensität - selbst die Bettszenen werden zum literarischen Ereignis, findet Gabriele von Arnim.
Ein Mann hat sich zurückgezogen von der Welt. Job, Frau und Kind sind Vergangenheit. Er kargt in einem moderigen Zimmer in einem bretonischen Städtchen am Meer. Frönt seinen Ticks. Tippt zwanghaft mit den Fingerkuppen aneinander oder zählt die Poller, während er geht. Ein lebensmatter Mann und doch zugleich noch voller Sehnsucht nach Leben, nach einer jähen Lebendigkeit.

Kein aufregendes Szenario könnte man meinen, wenn man Seite für Seite dem abseits von der Welt Lebenden auf seinen Wegen folgt, doch Anne Weber gelingt es, den Mann am Meer in seiner dringlichen Einsamkeit so bildstark einzufangen – ihn als kleine Menschen-Figur vor gewaltige Wellen- und Himmelsbilder zu stellen, dass man schon mit diesem Teil ihres neuen Romans ein froher Leser ist. Und ahnt doch noch nicht, mit welch unerwarteter Wucht sie ihren Helden ins Glück und Unglück stürzen wird.

Eines Tages wird der Mann - Sperber nennt ihn die Autorin - von einer fremden Frau, einer Touristin geküsst. Er ist wütend und entbrannt. Findet sie unverschämt - und muss sie wiedersehen.

Es folgt eine so mürrisch abwehrende wie glühende Suche und schließlich ein gegenseitiges Finden von solch glückseliger Intensität, dass man hingerissen mitbebt. Entzündet von der so kraftvoll flutenden wie unverhohlen liebenden Sprache, die einen verblüfft bei der bisher meist so kühl sich von Gefühlen distanzierenden Autorin. Hier aber werden schwebende und jubelnde Crescendos in Zimmer, Straßen und Himmelsräume gesandt.

Es finden sich zwei und sind ganz außer sich oder wohl besser gesagt in sich vor Glück. Zwei, die zusammengehören. Die zusammen sein müssen. Mit ihren Körpern und mit ihren Seelen. Und Anne Weber schafft es - welch seltene Leselust -, sogar die Bettszenen zu einem literarischen Ereignis werden zu lassen. Beschreibt so explizit wie exquisit die sexuelle Gier, die Hautlust, das zärtliche Tasten, das innige Lieben und das gewaltige Wollen, dass man staunt ob ihrer Wort- und Bildkunst für die Liebe.

Jeder Spaziergang, jeder gegenseitige Anruf des liebenden Paares ist nichts als ein Echo ihres Glücks. "Ich bin jetzt stärker als ein Engel", sagt Sperber zu einer fremden alten Frau neben sich im Bus – und sie erzählt ihm, den sie noch nie sah, in wenigen Sätzen ihr Leben.

"Jetzt kann nichts - nichts Schlimmes - mehr geschehen", heißt es nach der zweiten Nacht. Und man ahnt Schreckliches. Zu Recht. Bald wogt Sperber nicht mehr auf den Wellen der Liebe, sondern reist in die graubleierne Dämmerstadt der Toten. Ist ein Orpheus auf der Suche nach seiner Eurydike.

Hin und wieder kann es geschehen, dass Sprache und Bilder ein wenig pompös daherkommen. Oder dass man die Anstrengung der Wortsuche spürt, die gewollte Perfektion. Doch dann wieder wird man mitgerissen von der Liebespracht oder der Einsamkeit, von der Inständigkeit verzweifelter Trauer.

Ein wunderbar aufregendes Buch, mit dem die Autorin sich, so scheint es, von manchen Hemmungen frei geschrieben hat. Und nun mit entfalteten Flügeln zu in Sphären des mysteriösen Menschseins zu fliegen wagt.

Besprochen von Gabriele von Arnim


Anne Weber: Tal der Herrlichkeiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012
256 Seiten, 18,99 Euro


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