Unterschiede der kulturellen Bewertung

Simone Lässig im Gespräch mit Katrin Heise · 03.12.2012
Israel habe an Bedeutung in Schulbüchern verloren, erklärt Simone Lässig, Professorin für jüdische Geschichte. Nur in etwa 20 Prozent der aktuell gesichteten Bücher tauche Israel überhaupt auf. In den Büchern, wo Israel auftauche, sei "das meistens im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt".
Katrin Heise: Es geht nicht nur darum, in Schulbüchern nachzuschauen, welches Bild wird in Deutschland von Juden oder von Israel vermittelt, wie kommen Deutsche wiederum in israelischen Schulbüchern weg, oder wie wird die Geschichte behandelt.

Die deutsch-israelische Schulbuchkonferenz, der geht es darum, zu ermitteln: Gibt es eigentlich für einen gemeinsamen Dialog auch eine gemeinsame Sprache? Aus historischen, aus politischen Gründen meint man in beiden Ländern vielleicht gar nicht unbedingt dasselbe, wenn man von Demokratie oder von Nation oder von Integration spricht. Missverständnisse und mögliche Hindernisse sollen aufgespürt werden, wenn sich heute und morgen die Teilnehmer über deutsche und israelische Schulbücher der Fächer Deutsch, Sozialkunde, Politik und Geografie beugen.

Ich begrüße die Leiterin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung. Schönen guten Tag, Simone Lässig!

Simone Lässig: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Frau Lässig, Sie verständigen sich zunächst einmal auf gemeinsame Grundlagen, auf Begriffe. Warum ist das eigentlich notwendig? Machen Sie uns mal deutlich, wie weit die Bedeutungen tatsächlich auseinander liegen können bei einzelnen Begriffen.

Lässig: Die Bedeutung liegt zum Teil sehr weit auseinander. Also nehmen Sie das Konzept Sicherheit. Zum einen hat sich so ein Konzept wie Sicherheit historisch entwickelt, hat sich auch in der Bundesrepublik, es hat sich natürlich in der DDR über die Jahre hinweg verändert. In Deutschland ist es heute, glaube ich, sehr viel stärker sozial definiert - die Sicherheit des Arbeitsplatzes, Abfederung ökonomischer Risiken, Risiken im Alter.

Das alles hat in Deutschland eine große Bedeutung, wenn so ein Konzept wie Sicherheit auf die Tagesordnung kommt. Und die Unverletzlichkeit von Grenzen, Schutz vor Terror und dergleichen kommt den Deutschen nicht unbedingt als Erstes in den Sinn. Das ist für sie relativ selbstverständlich, wenn sie über Sicherheit nachdenken.

Heise: Das ist in Israel natürlich ganz anders.

Lässig: Das ist in Israel ganz anders. Dort ist der Schutz vor Gewalt und Terror nach innen und außen natürlich ein ganz, ganz wichtiges Thema, ein wirklich prioritärer Wert, der auch über alle sozialen Gruppen und über Anhänger aller politischer Richtungen hinweg ein Wert der israelischen Gesellschaft ist.

Heise: Das heißt, im Schulbuch steht das Wort Sicherheit, und in Deutschland versteht man es ganz anders als in Israel.

Lässig: Genau das ist der Punkt. Und genau solche, ja, Unterschiede in den kulturellen Bewertungen, die hinter bestimmten Begriffen und Konzepten liegen, die wollen wir auf unserer Konferenz identifizieren und wollen uns damit auch ein Stück weit in der Kommission selber sensibilisieren für diese kulturelle Aufladung von Konflikten, für die kulturelle Aufladung aber auch von Begriffen, die uns scheinbar sehr selbstverständlich sind. Und von denen wir meinen, dass man sie so einfach mittels linguistischer Übersetzung in die Sprache der jeweils anderen übertragen könnten.

Heise: Sie sprechen von kultureller Aufladung. Kann man auch von emotionaler Aufladung sprechen?

Lässig: Ja natürlich. Also, Kultur und Emotion, ich glaube, das ist ohnehin schwer zu trennen. Aber viele Themen, die im Schulbuch verhandelt werden, haben natürlich auch mit Emotionen zu tun, sie wecken Emotionen, während zum Beispiel in modernen Schulbüchern sehr, sehr viel mehr Bilder, Fotografien, Bilder in Relation zum Text. Und gerade Bilder wecken - manchmal habe ich so den Eindruck auch, entgegen den Intentionen der Autoren - doch sehr starke Emotionen.

Heise: Und lassen natürlich auch eine viel stärkere Interpretation zu eigentlich, oder?

Lässig: Ja, absolut. Und unsere ersten Analysen haben auch gezeigt, dass der Umgang mit Bildern in Schulbüchern, und das betrifft offensichtlich auch beide Länder, noch vergleichsweise unreflektiert erfolgt. Also es werden sehr viele Bilder aus den tagesaktuellen Medien übernommen und noch wenig dafür getan, auch den Schülern so Handwerkszeug in die Hand zu geben, um Bilder kritisch zu reflektieren, einzuordnen und, ja, in ihrer Struktur auch zu erkennen.

Heise: Wir hatten da zum Beispiel gerade neulich eine Diskussion: Wenn man über Neonazis spricht in Deutschland, dann wird immer ein - so typische Stiefel oder so was abgebildet. So sehen die aber heute gar nicht mehr aus. Also das nur als Beispiel für so eine unreflektierte Wiedergabe von Bildern. Das wird in Israel sicherlich ähnlich sein.

Sagen Sie, diese Differenzen in der Kommunikation oder in der Begrifflichkeit, wie ist man da eigentlich in den 80ern umgegangen? Weil ich habe ja gesagt, um 1985 gab es schon mal eine Schulbuchkonferenz, eine deutsch-israelische - war das damals, ist man damals davon ausgegangen, Nation heißt Nation, da und dort, Integration wird auch überall gleich interpretiert. Hat man sich da an diesen Differenzen nicht so gestört? Warum wird das jetzt erst verhandelt?

Lässig: Also zunächst würde ich sagen, wir stören uns nicht an diesen Differenzen. Wir machen sie uns bewusst. Und das, denke ich, ist eine ganz wichtige Voraussetzung, um in einer solchen Kommission zu arbeiten.

In den 80er-Jahren, glaube ich, war die Welt, oder schien die Welt einfach noch ein Stück übersichtlicher. Und es ist, glaube ich, auch kein Zufall, dass die Wissenschaft generell, die Kulturwissenschaften, die Geisteswissenschaften sich inzwischen sehr viel mehr für das Ambivalente, für das vielleicht schwer oder gar nicht direkt Übersetzbare interessieren.

Die Welt ist einfach sehr viel unübersichtlicher und - ja, nicht so einfach strukturiert wie noch zu Zeiten des kalten Krieges geworden, und insofern ist auch die Sensibilität der Wissenschaftler und der Gesellschaften gewachsen für transkulturelle Phänomene, also Dinge, die im Zusammentreffen von Kulturen, wobei Kulturen eben keine feststehenden Entitäten sind, sondern sich irgendwie immer auch übersetzen. Aber Dinge, die im Zusammentreffen von Kulturen verhandelt werden müssen und bewusst gemacht werden müssen.

Und das ist, glaube ich, in den 80er-Jahren so stark noch gar nicht empfunden worden. Dann hat in den 80er-Jahren diese Kommission sich sehr stark auf Geschichte konzentriert. Und unsere Kommission setzt jetzt ein wenig breiter an ...

Heise: Sozialkunde, Politik, Geografie sind auch Fächer, auch das Fach Deutsch wird in der deutsch-israelischen Schulbuchkonferenz eine Rolle spielen?

Lässig: Nein, Deutsch nicht. Deutsch nicht. Also Geschichte, Geografie, Sozialkunde ...

Heise: Warum zum Beispiel Religion gar nicht? Oder kommt das da rein bei Sozialkunde, Politik, oder ... ?

Lässig: Also, zunächst sind das die drei klassischen Fächer, die in der internationalen Schulbuchkommission immer wieder thematisiert worden sind, weil sie als - früher sagte man, sehr stark Ideologie gefährdet gelten, ja? Von daher kommt also international auch immer wieder das Interesse an diesen drei Fächern ganz besonders zum Vorschein.

Und Religion ist einfach ein Fach, was zwischen unterschiedlichen Ländern sehr schwer vergleichbar ist. Weil es in den Bildungssystemen ganz unterschiedliche Rollen spielt. Und von daher hätte jetzt unsere Arbeit jetzt doch erheblich erschwert, Religion noch mit in die Analysen hinein zu nehmen.

Heise: Frau Lässig, wenn man jetzt noch mal schaut, 1985 die erste Konferenz dieser Art, die gegenseitige Darstellung in den Kategorien Opfer-Täter sicherlich noch sehr viel festgefahrener - wie ist die Darstellung zwischen Deutschen, Israelis, Deutschen, Juden - wie ist die Darstellung heute?

Lässig: Also hier muss ich sagen, wir haben zunächst einmal so ein Zwischenetappe erreicht im Moment. Also wir ziehen auf dieser Konferenz eine Zwischenbilanz. Das, was wir in den ersten eineinhalb Jahren getan haben, ist zunächst einmal zu bestimmen, welche Schulbücher können wir überhaupt analysieren.

Das klingt ganz einfach, ist es aber nicht. Das ergibt sich daraus, dass in Israel für diese drei Fächer, die wir genannt haben, etwa 150 Schulbücher im Moment zugelassen sind, und wir wollten uns auf die aktuellen konzentrieren. In Deutschland ist es ungefähr das zehnfache. Wir alle wissen, woran das liegt. Das hat etwas mit dem föderalen System zu tun, das hat etwas mit unserem stark gegliederten Schulsystem zu tun und natürlich auch daran, dass es einen pluralen Schulbuchmarkt gibt, also verschiedene Verlage und Anbieter.

Und von daher war es zunächst erst mal ganz wichtig, dass sich die Kommission darüber verständigt, wie bilden wir überhaupt so etwas wie ein repräsentatives Sample, was wir dann untersuchen können. Wir haben uns dann darauf geeinigt, für fünf Bundesländer genauer hinzuschauen. Bundesländer, die ungefähr so 60 Prozent aller deutschen Schüler umfassen.

Und wir haben uns entschieden für das bevölkerungsreichste, also Nordrhein-Westfalen, für das flächenmäßig größte, Bayern, für Sachsen als Beispiel für eines in den neuen Bundesländern, Niedersachsen und Berlin.

Heise: Nennen Sie vielleicht zum Abschluss noch mal so eine veränderte Darstellung.

Lässig: Ja, was wir festgestellt haben, ist, dass Israel an Bedeutung verloren hat. Diese Schulbücher, was ich gerade nannte, die wir untersucht haben, insgesamt nur in etwa 20 Prozent der gesichteten Bücher taucht Israel überhaupt auf.

Das variiert ein wenig zwischen den Fächern, aber im Prinzip ist es ungefähr um die 20 Prozent, also nur jedes fünfte Buch. Und in diesen Büchern, wo Israel auftaucht, tut es das meistens im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt.

Heise: Also durchaus ja auch ein Konflikt, in dem es immer weiter immer schwierig bleibt, der natürlich in Schulbüchern auch schwierig abzubilden ist. Simone Lässig, Professorin für jüdische Geschichte und Leiterin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung zur deutsch-israelischen Schulbuchkonferenz, die sich mit diesen Unterrichtsthemen beschäftigt.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema