Unsere Justiz braucht mehr Unabhängigkeit

Von Peter-Alexis Albrecht · 01.02.2013
Hierzulande gibt es eine Vielzahl Gerichte auf verschiedenen Ebenen. Sie alle gelten als unabhängig – von Regierungen, Behörden und auch von den Parlamenten. Sie sind aber nicht unabhängig genug, meint Peter-Alexis Albrecht. Er wünscht sich das Gerichtswesen als eine autonome Institution.
"Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut." Wer das sagt? Das Grundgesetz in Artikel 92. Aber nicht nur dort ist das geregelt. Die Gewaltenteilung im Staat ist ein Ewigkeitselement, das verfassungsrechtlich höchst gesichert ist. Niemand – auch kein Gesetzgeber – kann sie anrühren, weil sie Gesellschaft und Staat konstituiert, ihre Basis ist. Soweit der von historischer Erfahrung getragene Verfassungstext.

Und die Wirklichkeit? Wahre Unabhängigkeit ist der Dritten Gewalt in unserer Rechtsordnung noch nicht zuteil geworden. Gewiss, niemand schreibt unseren Richtern ihre Urteile vor. Aber die unsichtbaren Gestaltungs- und Prägekräfte der gesellschaftlichen Realitäten haben den Hauptaspekt der Gewaltenteilung, nämlich deren gegenseitige Kontrolle immer mehr abgeschliffen.

Ziel ist der Schutz der Freiheit des Bürgers
Auf gegenseitige Kontrolle kommt es in der Demokratie aber primär an. Wenn Demokratie überhaupt Sinn macht, dann in der wirksamen Kontrolle der Macht: Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichte haben sich gegenseitig in Schach zu halten. Das Ziel ist der Schutz der Freiheit des Bürgers. Verstöße sind zu sanktionieren, eben durch die Dritte Gewalt, die selbst von Verfassungs wegen an Recht und Gesetz gebunden ist.

Lediglich das Bundesverfassungsgericht funktioniert in dieser verfassungsrechtlich gesicherten Autonomie. Schamvoll müssten Parlament und Regierung unter dem Hagel verfassungsrechtlicher Ohrfeigen eigentlich Besserung anstreben. Aber nichts ist. Der politische Alltag lehrt das Gegenteil. Das müsste die Bürger alarmieren, d.h. sie sollten eine wache Gesamtjustiz fordern.

Vorteile der Autonomie
Vorbild ist das Bundesverfassungsgericht. Es bestellt selbst seinen Haushalt und dürfte im Kern keinen externen Einflüssen ausgeliefert sein. Zwar unterliegen die Richter in ihrer Ernennung dem politischen Proporz von Bundestag und Bundesrat, aber einmal bestellt, entfaltet sich ihre Autonomie gegenüber ihren Bestellern und die erleben oft ihr blaues Verfassungswunder. Das sind die Vorteile einer Autonomie, die frei ist von Beförderung, Honorierung und Leistungsdruck.

Im Bund, aber noch stärker in den Ländern bestellt, bewertet, honoriert und befördert die Exekutive aus Regierung und Verwaltung ihre richterlichen Kontrolleure in höchst bedenklicher Allmacht selbst. Die Ministerien bestimmen auch die personellen und sachlichen Ausstattungen der Gerichte und Staatsanwaltschaften.

Und warum gewährt man der Justiz nicht realiter ihre verfassungsrechtlich gegebene Unabhängigkeit? Ganz einfach: Weil die machtvollste aller drei Gewalten, nämlich die Exekutive, ihren Einfluss auf ihre juristischen Kontrolleure behalten will. So kommt es zur bedrückenden Gewaltenverschränkung. Sie lässt die Exekutive weitgehend unangetastet von Strafverfolgung – auch bei schlimmem Fehlverhalten ihrer Repräsentanten.

Deutschland, Österreich und Tschechien beharren auf altes System
Welcher Staatsanwalt und Richter ermittelt denn heute gegen die Verantwortlichen der Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrisen? Dazu gehört zurzeit ungeheuerlicher Mut und diesen gibt es nicht ohne wahre, d.h. gesicherte Unabhängigkeit der Dritten Gewalt. In der europäischen Union praktizieren bereits 24 Staaten eine autonome Selbstverwaltung der Justiz. Nur Deutschland, Österreich und Tschechien lassen alles beim Alten – beim alten Machterhalt der Gewaltenverschränkung.

Und wer würde eine autonome Dritte Gewalt kontrollieren? Sie wird durch die Bindung an Recht und Gesetz auf ihre Grenzen verwiesen und wird durch verschiedene Instanzenzüge wirkungsvoll geformt – vorausgesetzt, dass sie nicht personell ausgedünnt ist. Aber das hat die Exekutive schon geschafft. Der sogenannte Sparzwang hat den Rechtswegestaat schon schwer gebeutelt. Die Überlast an Verfahren gibt dem Richter für die autonome Entfaltung von Gerechtigkeit immer weniger Chancen.


Peter-Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Grundlagenbezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Methoden empirischer Sozialwissenschaften zur Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems.

Veröffentlichungen u.a.: "Die vergessene Freiheit" (2. Auflage, 2006) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheitsregeln" (2010).

Er ist Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift "Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft".
Prof. Dr. Peter Alexis Albrecht
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