Ungebrochene Hoffnung auf Versöhnung

Von Blanka Weber · 28.08.2012
Mit der Goethe-Medaille werden Künstler und Intellektuelle für ihre Zivilcourage, ihren Glauben an die Macht des Wortes bei der Aufarbeitung nationaler Traumata geehrt. In diesem Jahr erhielt die litauische Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Irena Veisaitè die renommierte Auszeichnung.
"Ein Satz von Irena Veisaitè hat mich tief beeindruckt und hat sich mir eingeprägt. Der lautet: Es braucht wenige, um viele zu töten, und viele, um wenige zu retten."

Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hielt die Laudatio auf Irena Veisaitè. Dankbarkeit, sagt sie, sei ein zentraler Wesenszug jener Frau, die heute die Goethemedaille verliehen bekam.

Irena Veisaitè: "Das Motto meiner kurzen Rede sind die Worte von Georg Büchners Wojzeck: Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einen, wenn man hinab sieht."

Die zierliche Person im weißen eleganten Kostüm steht am Rednerpult. Sie erzählt von ihrer frühen Kindheit, damals in Litauen inmitten eines humanistischen Elternhauses:

Irena Veisaitè: "Beide hatten in Deutschland studiert. In unserem Hause kamen Vertreter unterschiedlicher Völker zusammen. Man sprach Litauisch, Russisch, Deutsch, Französisch, Jiddisch, Polnisch. Meine Kindheit war glücklich und unbeschwert."

Bis zu jenem Tag der sowjetischen Besatzung und später der deutschen Besatzung Litauens. Das war der tragische Höhepunkt, sagt die 84-Jährige:

"Meine 35-jährige Mutter, ich bin schon viel älter als sie war, meine Großeltern, meine Tanten haben den Holocaust nicht überlebt. Ich selbst sah dem Tode jeden Tag in die Augen."

Sie habe großes Glück gehabt, vor allem aber Menschen getroffen, die ihr helfen wollten. Eine junge Litauerin mit sechs Kindern nahm sie in die Familie auf und setzte damit das Leben aller aufs Spiel:

"Was dies für die Entwicklung meines Weltbildes bedeutete, begriff ich erst viel später. Mir wurde klar, dass die erlebte Liebe und Aufopferung mich nicht nur physisch, sondern auch geistig gerettet hat."

Sie erzählt von den edlen Worten Schillers über Freundschaft, Treue und Selbstaufopferung, die man im Ghetto las – inmitten der Grausamkeit:

"Das trug dazu bei, die Hoffnung nicht zu verlieren, dass es auf der Welt noch Menschlichkeit und Mitgefühl gibt."

Das 20. Jahrhundert sei eine große Bewährungsprobe der Menschlichkeit gewesen, sagt die Germanistin, die über Gedichte von Heinrich Heine promovierte und acht Sprachen beherrscht, darunter Jiddisch, Estnisch und Französisch.

"Und nun steh ich hier in Weimar. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Zum ersten Mal komme ich in die Stadt von Goethe und Schiller, von denen Licht, Hoffnung und Glaube an die Menschheit ausgegangen sind. Und beim Blick auf das 21.Jahrhundert frage ich mich, was die Überhand gewinnen wird: der Egoismus des Einzelnen und der einzelnen Völker, die Gier nach Macht und Geld oder das menschliche Gewissen, die menschliche Würde und Tugend?"

Es ist leise im Raum, wenn Irena Veisaitè mit klaren, ruhigen Worten erklärt, was sie denkt über das 21. Jahrhundert, über Werte, die heute andere sind:

"Betrachten wir den modernen Menschen unserer Zeit, sehen wir uns schon wieder vor einem Abgrund stehen, denn viele Grundwerte sind verloren gegangen. In unserer liquiden Welt, wie Professor Zygmunt Bauman sich ausdrückt, hat sich der ständige Wechsel durchgesetzt. Treue, Ehre, Tugend und Barmherzigkeit sind nur noch leere Worte geblieben."

Es ist der sorgenvolle Blick der großen alten Dame auf unsere Gegenwart, auf das, was geblieben ist an Wurzeln und auf das, was sich entwickelt hat aus dem 20.Jahrhudnert heraus, vermutlich als kulturelle Bewährungsprobe.

"Ob Hoffnung besteht, dass der Mensch und die Welt besser und gerechter werden - ich weiß es nicht. Vielleicht kommt es mir nur so vor, aber ich möchte glauben, dass der Mensch des 21.Jahrhunderts dem Nihilismus der postmodernen Welt standhält, dass er zu den Grundwerten von Lessing, Goethe und Schiller zurückkehrt."

Sie würde oft an Schillers Worte aus dem Lied von der Glocke denken, an das, was der Mensch Schreckliches anrichten könne in seinem Wahn. Eines macht sie nicht: Sie erhebt keinerlei Vorwürfe. Im Gegenteil:

"Der Holocaust hat mich gelehrt, anderen mit Mitgefühl und Verständnis entgegenzukommen. Nie niemandem das anzutun, was man mir angetan hat. Der Holocaust hat mich begreifen lassen, dass man, um weiterleben zu können, lernen muss zu lieben und zu vergeben."
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