Und sie verändert sich, die Türkei!

Von Mely Kiyak · 24.10.2013
Seit den Tagen des Protestes, bei denen die türkische Polizei im Frühsommer äußerst hart gegen Demonstranten vorgegangen war, ist Mely Kiyak durch die Türkei gereist. Sie war Stipendiatin in Istanbul: Im "Politischen Feuilleton" fasst die Publizistin aus Berlin ihre Eindrücke zusammen.
Ich blicke auf fast fünf Monate in der Türkei zurück. Als die Proteste am Taksimplatz aufflammten, kam ich gerade an und wie sie verebbten, blieb ich immer noch. Ich erlebte drei Jahreszeiten und reiste viel. Am Ägäischen Meer in Ayvalik, gegenüber der griechischen Insel Lesbos beispielsweise, wo allein zwei Millionen Olivenbäume wachsen, sprach man über die Ernte und dass nun mehr Griechen denn je zum Einkaufen auf den Wochenmarkt kämen, seit man im Nachbarland von der Finanzkrise betroffen ist, weil Gemüse und Obst auf der türkischen Seite günstiger sind.

Im Westen der Türkei, wo die reichen Istanbuler ihre Wochenendhäuser haben, waren Protest und Verdruss über die Politik der Machthaber so weit entfernt wie nirgends sonst in der Türkei. Im Süden des Landes, an der Grenze zu Syrien, traf ich türkische Bürger, denen der Abstieg von der Mittelschicht in die Unterschicht drohte, weil der syrische Bürgerkrieg den zuvor reibungslos funktionierenden Warenverkehr blockierte. Dort haben die Menschen Angst vor Krieg, Flüchtlingen, Rebellen und Islamisten. Ihre Oase der Multikulturalität droht zerstört zu werden.

Frieden war noch nie so greifbar
Im Osten hoffen die Kurden auf Frieden. Während in Ankara, Izmir und Istanbul zu Hunderttausenden gegen die Regierungspartei AKP protestiert wurde, hielten die Kurden still, weil der Frieden noch nie so greifbar war wie in den letzten dreißig Jahren.

Ich erlebte eine Kunstbiennale in Istanbul, die mit großem Getöse gegen Gentrifizierung vorgehen und den öffentlichen Raum verteidigen wollte, und sah stattdessen eine Kunstschau, die in abgeschlossenen Räumen stattfand. Ich hörte von Künstlern, die, wenn es darauf ankommt, eben doch nicht rebellieren. Das alles hat mit dem normalen Durchschnittstürken, der als Lehrer, Kellner, Friseur, Taxifahrer oder im Callcenter irgendeines Unternehmens arbeitet natürlich wenig zu tun. Der sogenannte Durchschnittstürke lebt nicht auf der europäischen Seite Istanbuls, sondern in irgendeinem der übrigen 39 Stadtteile oder in einer der 81 Provinzen der Türkei und träumt still von einem besseren Leben.
Für den einen Menschen bedeutet ein besseres Leben, dass er seine Identität als Homosexueller, Christ oder Arbeitsloser leben kann, ohne in seiner Menschenwürde verletzt zu werden. Für einen anderen, einfach den Monat finanziell zu packen oder den passenden Ehemann zu finden. Ich traf Menschen, die sich unbeirrt von Repressalien lokal engagierten. Die versuchen jenseits von politischen Parteien und Institutionen eine starke und selbstbewusste zivile Stimme zu sein. Egal ob in einem kleinen Dorf im Osten oder einem peripheren Stadtteil Istanbuls.

Ich traf Studenten, deren Väter Analphabeten waren oder Aprikosenbauern und die als erstes Familienmitglied eine Universität besuchten. Ich traf Kollegen und Kulturschaffende, deren Mut ich bewunderte, weil sie in den kurdischen Provinzen gegen alle Widerstände Kultur schufen, ohne sich in irgendwelchen rechten, linken, islamischen oder atheistischen Ideologien zu verfangen.

Nicht über einen Kamm scheren
Ich erlebte eine Türkei, die auch gesellschaftspolitisch, in so unterschiedlichen Klimazonen lebt, dass sie sich einfach nicht über einen Kamm scheren lässt. Die Belange eines Armeniers in Istanbul sind andere als die Belange eines Alawiten in der Grenzregion zu Syrien. Die Belange eines Sesamkringelverkäufers am Taksimplatz haben noch nicht einmal etwas gemein mit den Belangen eines Sesamkringelverkäufers aus Diyarbakir.

Ich will und kann kein Urteil abgegeben, was die Türkei nun ist und wird. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich starke Menschen traf. Menschen, die viel riskieren, um leben zu können, wie sie es möchten. Als ich am Flughafen Berlin-Tegel ankam und ungefähr 40 Minuten bis zu meiner Wohnung durch mehrere Stadtbezirke fuhr, es war gegen sieben Uhr abends, hatte ich Mühe, Menschen zu sehen.

Ich dachte, meine Güte, ist Deutschland leer und leise. Man sieht und hört außer Autos nichts. Vielleicht ist das der größte Unterschied Deutschlands zur Türkei. Diese Stille.

Mely Kiyak, Publizistin. Sie war Stipendiatin in der Kulturakademie Tarabya Istanbul. Im Dezember veröffentlicht sie im neu gegründeten Digitalverlag shelff "Istanbul Notizen/Istanbul Notlarý” einen Text über ihren fünfmonatigen Aufenthalt in der Türkei (auf Deutsch und Türkisch).

Auf "Zeit Online" erscheint ihre Kolumne "Türkische Tage". Zuletzt erschienen: "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten", "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (beide S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013).
Mely Kiyak
Mely Kiyak© Ute Langkafel
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