Und ein bisschen weise

Von Caspar Dohmen · 14.08.2013
Wirtschaftliche Zusammenhänge sind komplex, das ist nicht erst seit der letzten Finanzkrise bekannt. Vor 50 Jahren schuf die deutsche Politik deswegen ein unabhängiges Beratergremium: Den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
"Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Pressekonferenz ist eröffnet. Ich begrüße die Sachverständigen zu ihrer alljährlichen Konferenz, Pressekonferenz hier."

Einer der wichtigsten Termine im Hauptstadtkalender steht alljährlich im November an, wenn der Sachverständigenrat der Bundesregierung sein Gutachten überreicht. Darin beziehen die fünf Wirtschaftsweisen Stellung zu aktuellen und langfristigen Themen der Wirtschaftspolitik. In den 1960er Jahren hatten Politiker Antworten auf neue Fragen gesucht: Kann die Konjunktur über die Steuerpolitik reguliert werden? Können durch eine Ausweitung der Geldmenge Jobs geschaffen werden? Am 14. August 1963 nahm der Rat - der vor allem ein Anliegen des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard war - seine Arbeit auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel:

"Und Bundeskanzler Konrad Adenauer hat ihn oder soll ihn damals gewarnt haben und gesagt haben: ‚Erhard, woll`n Sie sich 'ne Laus in'n Pelz setzen?‘"

Jürgen Kromphardt:

"Die Diskussion ging dann darum, wie regierungsunabhängig soll dieses Gremium sein, in Amerika gibt es ein sehr an die Regierung eng angebundenes Konstrukt."

Die Bundesregierung habe sich - trotz der Skepsis Adenauers - für unabhängige Ratgeber entschieden, so Jürgen Kromphardt, Wirtschaftsweiser von 1999 bis 2004.

"Was natürlich dann auch - wie Adenauer das richtig vorhergesehen hat - dazu geführt habe, dass meistens die Regierungen, egal welcher politischen Couleur, kritisiert worden sind, weil sie eben nicht so schön konsistent Wirtschaftspolitik betrieben haben, wie wir uns das auf wissenschaftlicher Grundlage vorstellen können."

Die Bundesregierung schlägt die fünf Mitglieder vor, gewöhnlich an Hochschulen lehrende Ökonomen. Der Bundespräsident beruft sie für fünf Jahre – eine Verlängerung ist möglich. Jeweils bei einem Mitglied müssen Arbeitgeber und Gewerkschaften zustimmen, denn es sollen unterschiedliche Denkrichtungen vertreten sein. Entsprechend gibt es Minderheitsmeinungen. Sie blieben zunächst aber unveröffentlicht, ein Verfahren, über das sich die Beteiligten stritten. Wirtschaftsminister Karl Schiller schlichtete, nachdem der Vorgang auf dem Schreibtisch seines Abteilungsleiters Wilhelm Hankel gelandet war:

"Und der Ausweg war, dass ich dem Minister vorschlug, eine Geschäftsordnung für den Sachverständigenrat einzuführen, die es damals nicht gab, und in der Geschäftsordnung festzuhalten, Mindermeinungen müssen, egal wie sie ausfallen, im Kleingedruckten festgehalten werden."

Der Sachverständigenrat hat wichtige wirtschaftliche Entwicklungen früh thematisiert, zum Beispiel den Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse. Und die Ratgeber haben die Politik beeinflusst: Mit ihrem Gutachten 2002 lieferten sie die Blaupause für die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung, bekannt als Agenda 2010. Beifall gibt es dafür von der Bundeskanzlerin:

"Sie haben – ob von uns umgesetzt oder nicht – immer wieder wichtige Impulse gegeben. Manchmal mussten Sie warten, bis das passiert ist, was Sie schon lange gesehen haben – Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, viele Impulse für die Agenda 2010, die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Aber in der Wissenschaft weiß man ja, dass man einen langen Atem haben muss."
Eine Zäsur folgte aus dem Paradigmenwechsel in der Wirtschaftswissenschaft. Zunächst hatte der Rat die Idee der Globalsteuerung verfochten, also einer gezielten Beeinflussung des Wirtschaftsprozesses durch wirtschaftspolitische Maßnahmen, die auf die Nachfrageseite des Marktes wirken. Später setzte sich eine neoliberale Sichtweise durch, die vor allem auf Steuersenkungen für Unternehmen, Privatisierung und Deregulierung der Märkte vertraute. Daran erinnerte in den achtziger Jahren Herbert Giersch, Mitglied des ersten Rates:

"Insofern also hat es auch einen Wandel in der Konzeption des Sachverständigenrats gegeben, denn ich bekenne gerne, dass ich damals genauso Hoffnungen in die Globalsteuerung gesetzt habe wie Karl Schiller, und dass ich heute in Bezug auf diese Chancen desillusioniert bin."

Wiederholt lagen die Ratgeber mit Konjunkturprognosen daneben. Ihr größter Flop war die Vorhersage für 2009, verfasst zwei Monate nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers. Extreme Szenarien seien für Deutschland auszuschließen, die Wirtschaft werde stagnieren, erwarteten die Weisen. Tatsächlich folgte der größte Einbruch der Wirtschaftsleistung in der Nachkriegsgeschichte. Allerdings hatte das Gremium selbst schon in seinem ersten Gutachten 1964 auf den Wert von Prognosen verwiesen:

"Entgegen manchen Vorstellungen, die da und dort bestehen mögen, kann man nicht erwarten, dass irgendjemand – auch nicht ein Gremium – in der Lage ist, die künftige wirtschaftliche Entwicklung vorherzusehen."