Unabhängig und unbequem

Von Monika Köpcke · 28.05.2006
Mit mehr als einer Million Mitglieder über 150 Staaten ist amnesty international die größte und einflussreichste unabhängige Menschenrechtsorganisation der Welt. Zahllose Gefangene verdanken ihr, dass sie nicht vergessen wurden. Vor 45 Jahren wurde amnesty international in London gegründet.
An einem Novembertag des Jahres 1960 sitzt ein junger Londoner Anwalt in der U-Bahn und liest die Zeitung. Eine kurze Meldung über zwei portugiesische Studenten schockiert ihn: In einem Lissaboner Lokal hatten sie auf die Freiheit angestoßen und waren dafür ins Gefängnis gesperrt worden. Peter Benenson, so der Name des Londoner Rechtsanwalts, verlässt die U-Bahn mit dem festen Entschluss, etwas gegen solche Willkür zu unternehmen. Ein gutes halbes Jahr später, am 28. Mai 1961, veröffentlicht er einen Artikel in der britischen Wochenzeitung "The observer", der mit folgenden Sätzen beginnt:

"Sie können Ihre Zeitung an jedem x-beliebigen Tag der Woche aufschlagen, und Sie werden immer einen Bericht aus irgendeiner Ecke der Welt über jemanden finden, der inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet wird, weil seine Meinung oder seine Religion der Regierung nicht gefallen. Der Zeitungsleser empfindet eine ekelerregende Hilflosigkeit. Wenn aber diese Gefühle des Abscheus in der ganzen Welt in eine gemeinsame Aktion vereint werden, könnte etwas Effektives dagegen getan werden. "

Die Veröffentlichung des Artikels gilt als die Geburtsstunde der größten privaten Menschenrechtsorganisation. Ihr Name: amnesty international. Der Text löste eine Lawine aus. Über 30 große Tageszeitungen in der ganzen Welt druckten ihn nach. Noch im Juni 1961 gründeten sich in Frankreich, den USA und der Bundesrepublik eigene Gruppen. Die Durchsetzung und der Schutz der Menschenrechte sollten nicht mehr allein den Regierungen, den Parteien oder irgendwelchen Ideologien überlassen werden. Eine überparteiliche, unabhängige Bewegung über alle sozialen, kulturellen und nationalen Grenzen hinweg sollte fortan der Verwirklichung der "Erklärung der Menschenrechte" dienen, wie sie die Vereinten Nationen 1948 formuliert hatten.

"Amnesty sieht seine Hauptaufgabe darin, sich um die etwas 250.000 Häftlinge zu kümmern, sich für ihre Freilassung einzusetzen, die nur auf Grund ihrer Überzeugung im Gefängnis sitzen, keine Gewalt angewandt oder befürwortet haben."

Carola Stern 1972 in einem Interview. Die Publizistin gehörte zur Gründergeneration der bundesrepublikanischen Sektion von amnesty international.

"Wir setzen uns für alle politischen Gefangenen ein, dass sie ein anständiges Gerichtsverfahren erhalten, dass sie nicht zum Tode verurteilt werden. Das ist schon so unendlich viel, dass man sich manchmal fragen muss, ob man das überhaupt mit einer Organisation schaffen könnte."

Amnesty international wurde zu einer Zeit gegründet, als zahlreiche Bürger- und Befreiungskriege den afrikanischen Kontinent erschütterten, als in den europäischen und südamerikanischen Militärdiktaturen staatliche Willkür die verfassungsmäßig verbrieften Rechte ersetzte und sich der Kalte Krieg verschärfte. Amnesty nahm den unbequemen Platz zwischen all diesen Fronten ein und war im eigenen Land jeweils nur solange wohl angesehen, wie es um Gefangene aus dem anderen Machtbereich ging. Carola Stern über die Bundesrepublik:

"Man war immer wieder bereit, uns Geld und auch Unterstützung zu geben für die Gefangenen in Osteuropa, aber kaum bereit, in Spanien, in Portugal, in Lateinamerika zu arbeiten."

Amnesty international finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge, um so unabhängig zu bleiben. Je drei Gefangene aus verschiedenen Regionen der Welt werden von einer kleinen Basisgruppe "adoptiert". Nach der Methode "steter Tropfen höhlt den Stein" schicken die Mitglieder solch einer Gruppe zahllose so genannte "Briefe gegen das Vergessen" an die Regierungs- und Justizbehörden "ihres" Gefangenen, in denen sie sich für seine Freilassung oder wenigstens eine Hafterleichterung einsetzen. Sie halten Kontakt zu den Angehörigen und unterstützen sie, wenn nötig, finanziell. Es ist eine mühsame, geduldverschleißende Kleinarbeit, für die amnesty 1977 den Friedensnobelpreis bekam.

Gesteuert werden alle Initiativen aus der Zentrale in London, wo die Internationale Sektion ihren Sitz hat. Hier wurden die Kampagnen gegen die Folter und die Todesstrafe entworfen, hier entstehen die "Fallakten" über die zu betreuenden Opfer. Barbara Lochbiehler, Generalsekretärin der deutschen Sektion:

"Das ist das A und O, das ist unser Kapital, unser Rückgrat, dass unsere Fakten gut sind. Wir berufen uns auf Zeugen, auf Gerichtsakten, auf medizinische Atteste, auf Notizen, Bücher und Berichte zusätzlich zu den Kontakten, die wir über die Personen haben. Wenn wir uns unsicher sind, dann lassen wir uns Zeit für die Recherchen. Das ist uns wichtiger als ganz schnell in die Presse zu kommen."

Mit über einer Million Mitglieder in mehr als 150 Staaten ist amnesty international heute die größte und einflussreichste unabhängige Menschenrechtsorganisation der Welt. Die ursprüngliche Aufgabe, sich für gewaltlose politische Häftlinge einzusetzen, hat sich seit 1991 erweitert. Nun tritt auch der Schutz von ethnischen Minderheiten oder diskriminierten Frauen in den Blickpunkt der Arbeit. Und seit den Anschlägen des 11. September 2001 registriert die Organisation eine Zunahme staatlicher Menschenrechtsverletzungen im Namen der Terrorismusbekämpfung. Guantanamo, Abu Graib oder geheime CIA-Flüge sind heute zentrale Stichpunkte für das Engagement von amnesty international. Doch eines ist geblieben: Der Blick auf das einzelne Opfer. Peter Benenson hat es einmal so formuliert:

"Man muss immer die einzelne Person sehen, diese eine und dann jene eine, immer nur eine auf einmal."