Ukraine

Wie der Bürgerkrieg das Lesen beeinflusst

Auf einem Stand des Kiewer Bücherbazars sind am 21.03.2014 die neue Autobiografie des früheren Präsidenten Viktor Juschtschenko, ein christliches Buch des derzeitigen Übergangspräsidenten Alexander Turtschinow, ein Jugendfoto der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko ausgestellt.
Ukrainische Bücher - der Bürgerkrieg hat auch den Buchmarkt in dem Land verändert. © picture alliance / dpa / Friedemann Kohler
Von Cornelius Wüllenkemper · 27.10.2015
Welche Rolle spielt die Literatur in einem Land, das wie die Ukraine in einem Bürgerkrieg um die eigene Identität kämpft? Wir haben uns in Odessa umgeschaut - einer liberalen, multikulturellen Literaten-Stadt.
In der Pastera-Straße unweit des historischen Stadtzentrums von Odessa betreibt Yana Kalmykova ihren Buchladen "Hippocampus". Bereits auf dem Bürgersteig geht sie mit Hörbüchern auf Kundenfang, heute mit Dostojewskis Klassiker "Der Doppelgänger" - und zwar auf Russisch. Yana will zu Zeiten des Krieges gegen die pro-russischen Separatisten eigentlich nur noch Bücher auf Ukrainisch verkaufen. Nur, so einfach ist das nicht:
Yana Kalmykova: "Wir haben hier in der Ukraine ein ziemliches Bildungsproblem. Als ich meinen ersten Laden aufgemacht habe ging es mir vor allem darum, schöne Bücher in gutem Ukrainisch zu verkaufen. Aber unabhängige Buchläden in Odessa haben es ziemlich schwer, gerade dann, wenn sie Bücher auf Ukrainisch verkaufen. Gegen die Buchladenketten aus Russland kommen wir nicht an.
Bücher auf Ukrainisch gab es bisher nur vereinzelt, zumeist einfache und schlecht lektorierte Drucke. Viele wollen das jetzt ändern, denn die ukrainische Sprache ist längst zum Symbol eines neuen nationalen Selbstbewusstseins geworden. Insgesamt fünf unabhängige Buchhandlungen gibt es in Odessa, einer Stadt mit immerhin 1,5 Millionen Einwohnern. Vor zwei Jahren hat die 38-jährige Buchhändlerin Yana ihren zweiten Laden eröffnet: 60 Quadratmeter im Souterrain, einfache Holzregale und eine gemütliche Sitzecke, im hinteren Teil eine kleine Café-Bar für die Kunden.
Kalmykova: "Junge Eltern kaufen vor allem Kinderbücher, das ältere Publikum greift eher zu den russischen Klassikern. Daneben gibt es immer mehr Leute zwischen 20 und 35, die sich für Philosophie, Kultur und Wissenschaft interessieren. Das ist erstaunlich in diesen Zeiten und ein gutes Zeichen für die Ukraine."
Der ukrainische Buchmarkt bleibt gespalten: Von 350 ukrainischen Verlagen publizieren gerade einmal 20 ausschließlich auf Ukrainisch. Dabei fahren die großen russischen Verlagshäuser und Buchhandelsketten wie Bukwa und Je immer noch den Großteil des Umsatzes auf dem ukrainischen Markt ein. Aber: Es gibt Hoffnung, meint Olga Zhuk, die an der Bar in Yanas Buchladen an einem Espresso nippt. Zhuk ist die Leiterin des Kunst- und Buchfestivals "Arsenal" in Kiew. Die politische und wirtschaftliche Krise des Landes sieht sie auch als große Chance.
Bücher sind für selbstbewusste Zivilgesellschaft wichtig
Olga Zhuk: "Die kleinen Verlage für anspruchsvolle, intellektuelle Bücher finden jetzt ein neues Publikum. In den zwei Jahren seit dem Maidan hat sich eine starke öffentliche Bürgerbewegung entwickelt. Die Verleger beginnen zu verstehen, das sie es mit einem engagierten Lesepublikum zu tun haben. Sie verkaufen nicht nur, sondern bilden auch Netzwerke. Es geht längst nicht mehr nur um das Produkt, sondern ebenso sehr um die gesellschaftliche Verantwortung."
Bücher spielen für eine selbstbewusste Zivilgesellschaft eben eine zentrale Rolle, meint Olga Zhuk. Neben den Texten der bekannten ukrainischen Autoren wie Juri Andruchowitsch, Sergej Zhadan und anderen sind mittlerweile zahlreiche populärwissenschaftliche Abhandlungen über den Krieg erschienen, und auch in Hobbydichterkreisen hat das Thema Krieg Konjunktur.
Der große Roman über die Suche der Ukraine nach der eigenen Identität lässt noch auf sich warten. Olga Zhuk ist zuversichtlich: Tolstois "Krieg und Frieden" sei immerhin auch erst mehr als siebzig Jahre nach den Napoleonischen Kriegen erschienen.
Olga Zhuk: "It’s time to experiment. It’s a inspiring time for us ..."
Am Sonntagnachmittag im Stadtgarten unweit der Haupteinkaufsstraße Deribasovskaya drehen vor einem Musikpavillon Tänzer lächelnd ihre Runden. Die Herbstsonne scheint warm, dazu ein leichter Wind vom Meer. Vom Krieg scheint hier niemand Notiz zu nehmen. Für einen Moment scheint das alte Odessa wieder aufzuerstehen.
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