Ukraine-Krise

Europa versus Russland

Eine Hitler-Karikatur vom russischen Präsidenten Putin auf einer Hauswand in Prag.
Eine Hitler-Karikatur vom russischen Präsidenten Putin auf einer Hauswand in Prag. © picture alliance / dpa / Foto: Vit Simanek
Von Michael Kleeberg · 03.06.2014
Europa fehlen die Märtyrer, meint der Schriftsteller Michael Kleeberg. Für das geeinte Europa hat noch nie jemand leiden müssen. Das ist es, was das europäische Narrativ vom amerikanischen oder von französischen unterscheidet, von diesen beiden großen Utopien der Neuzeit. Doch mit der Ukraine-Krise scheint sich das zu ändern: Wladimir Putin ist eine Bedrohung für die europäische Idee. Und könnte ihr auf diese Weise helfen.
Zu den beiden größten staatlichen Utopien der Neuzeit, die Wirklichkeit geworden sind, hat sich eine dritte gesellt. Zu den beiden die Menschheit aufrührenden und stimulierenden Narrativen der amerikanischen und der französischen Revolution ist ein drittes hinzugekommen, das einige und freie Europa.
Wird dieses übernationale Projekt ein ebenso nachhaltiger Menschheitstraum werden wie die beiden großen nationalen Revolutionen? Das hängt mehr als von seinen Förderern von seinen Feinden ab. Insofern stehen die Zeichen besser als je zuvor.
Denn die beiden modernen Hoffnungsmythen, die völkerübergreifend die Menschen bewegt und die Geschichte geprägt haben, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die französische Erklärung der Menschenrechte, mussten, damit die humanistischen Ideen, die sie transportierten, wirksam wurden, durch einen siegreichen Krieg, durch Mythen und Opfer beglaubigt werden, um mehr zu sein als geduldiges Papier.
Ein eng verzahnter Staatenbund
Die große Idee strahlt über die Grenzen, aber erst die äußere Bedrohung schafft die gesellschaftliche Bindekraft. Und die große Idee setzt sich nur durch, wenn die Nation, aus der sie kommt, den sie besiegelnden Krieg gewinnt. Verliert sie ihn, verschwindet auch die Idee.
Das Projekt der europäischen Einigung unterscheidet sich von den nationalen Erzählungen genau in dem entscheidenden Punkt, als sein Ziel eben keine Nation mehr ist, sondern ein eng verzahnter Staatenbund mit gemeinsamer Währung, gemeinsamen rechtsstaatlichen Kriterien, etwas wirklich neues, ein erster erfolgreicher Schritt hinaus aus dem nationalen Denken, dem wir sehr viel Fortschritt, aber noch mehr Blutvergießen verdanken.
Ein entscheidendes Element aber fehlt diesem Europa bislang, und es fehlt ihm deshalb, weil das Herz und die Psyche der Menschen ungleich archaischer funktionieren als ihr Bewußtsein. Um es so provokant wie möglich zu formulieren: Es fehlen dem vereinten Europa die Märtyrer. Für diese europäische Union hat noch niemand leiden müssen.
Und momentan scheinen nur diejenigen bereit, für sie zu leiden, die draußen stehen und unter Einsatz ihres Lebens in dieses Paradies hineinwollen, an ihm partizipieren wollen: Flüchtlinge aus Afrika, junge Araber, junge Osteuropäer, die genug haben von den Mörder-, Folter- und Unrechtsregimes ihrer Heimatländer.
Anders als mancher Zyniker bei uns behauptet, ist es eben nicht nur und nicht in erster Linie der Kapitalismus, der sie anzieht, sondern das, was uns selbstverständlich und langweilig geworden ist: die Abwesenheit von Krieg und Staatsterror und Folter und allumfassender Korruption, sowie ein Rechtssystem, das den Namen verdient.
Die EU hat einen Gegner
Gerade die Tatsache, dass der europäische Einigungsprozess seit den 50er-Jahren ein Werk der Zivilisten ist, der Advokaten und Administrationsfachleute, dass er die Mühen der Ebene in Dekret- und Erlassschritten durchschreitet, hat die Europavision die Faszinationskraft gekostet, die sie vor einem Jahrhundert, als sie noch pure Utopie war und Kriege noch eine nahe und böse Selbstverständlichkeit waren, auf die besten Geister ausübte.
Es hätte bereits einmal die Möglichkeit gegeben, dieses Projekt in den Herzen, im Bewusstsein und Unterbewusstsein der Menschen zu verankern. Das war der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien der frühen 90er Jahre. Wie das hilflose und erbärmliche Verhalten der europäischen Union von damals zeigt, die wieder einmal auf das militärische Eingreifen der USA warten musste, wäre das, was Europa nötiger hätte als eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Armee.
Aber seit einiger Zeit ist alles anders.
Die europäische Union, die europäische Vision von Demokratie und Freiheit hat einen Gegner. Er heißt Wladimir Putin. Er kommt wie gerufen. Entweder ist er die akute Gefahr für die Gemeinschaft, die er derzeit zu verkörpern scheint, oder er ist ein Papiertiger, dem es nur um die Machterhaltung nach innen geht, was aber keinen Unterschied macht. Das Bedrohungspotential bleibt dasselbe. Und das Bedrohungspotential ist es, was Europa zusammenschweißen kann.
Michael Kleeberg wurde 1959 in Stuttgart geboren und wuchs in Süddeutschland und Hamburg auf. Er studierte Politische Wissenschaften und Geschichte an der Universität Hamburg. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen (Marcel Proust) und Englischen (John Dos Passos) in Berlin. Neben Erzählungen und der Novelle "Barfuß" (1995) veröffentlichte er die Romane "Proteus der Pilger" (1993, Anna-Seghers-Preis 1996) und "Ein Garten im Norden" (1998, Lion-Feuchtwanger-Preis 2000).Zuletzt erschienen bei DVA der Roman "Der König von Korsika" (2001), 2004 das vielbeachtete libanesische Reisetagebuch "Das Tier, das weint" und der Roman "Karlmann (2007)", für den er den Irmgard-Heilmann-Preis 2008 erhielt. Sein aktueller Roman "Das amerikanische Hospital" (2010) wurde mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt. Michael Kleeberg war Stadtschreiber 2008 der Stadt Mainz, des ZDF und 3sat. Sein erstes Kinderbuch "Luca Puck und der Herr der Ratten" (2012, Dressler Verlag, das er für seine Tochter geschrieben hat, erhielt den Saarländischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2012.
Der Schriftsteller Michael Kleeberg
Der Schriftsteller Michael Kleeberg© Jörg Schwalfenberg