Ukraine

Intellektuelle spielen "keine große Rolle"

Menschen aus der Ukraine an der Grenze zu Russland
Menschen aus der Ukraine an der Grenze zu Russland © dpa / picture-alliance / Rogulin Dmitry
15.09.2014
Wer prägt derzeit die politischen Debatten in der vom Krieg zerrissenen Ukraine? Die Intellektuellen unglücklicherweise nicht, klagt der Schriftsteller Andrej Kurkow. Er hat Angst - denn Putin habe nichts mehr zu verlieren.
Korbinian Frenzel: Wenn es ein Thema gibt, was uns in diesen Zeiten fast täglich begleitet, dann ist es die Ukraine und der Riss, der mit ihr mittlerweile durch ganz Europa geht. Täglich begleitet hat diese Krise auch Andrej Kurkow als Bürger seines Landes, als jemand, der täglich Tagebuch schreibt und der seine Aufzeichnungen während dieser Krise jetzt als Buch veröffentlicht hat: "Ukrainisches Tagebuch" heißt es.
Und darin schreibt er über "ein Leben während der Revolution, ein Leben in Erwartung eines Krieges, der sehr nah erscheint, viel näher als selbst vor einer Woche noch". Ich habe am Abend mit Andrej Kurkow sprechen können und ihn gefragt, ob die Ukraine, seitdem er das geschrieben hat, dem Krieg noch näher gekommen ist.
Andrej Kurkow: Eigentlich ist der Krieg schon da und man spürt die Atmosphäre auch in Kiew, obwohl die Leute versuchen, das tägliche Leben normal zu führen. Aber natürlich, praktisch sind die Männer aus der ganzen Ukraine für diesen Krieg mobilisiert, auch aus Kiew, und regelmäßig gibt es auch Begräbnisse von diesen Männern, die aus dem Donbass zurück nach Hause gebracht werden. Es ist kein Spaß und es ist eine traurige Atmosphäre. Aber die Kinder gehen in die Schule, die Leute arbeiten, alles sieht ganz normal aus, wenn man nicht weiß, was passiert.
Frenzel: Aber ist "Krieg" das Wort, das man verwendet, das die Menschen verwenden in der Ukraine, um das zu beschreiben, was dort passiert?
Kurkow: Das hängt davon ab. Es gibt viele Leute, die sagen nicht, dass es eine "antiterroristische Operation" ist, und offiziell benutzen auch der Präsident und andere solche Phrasen. Aber auch viele Intellektuelle, viele Leute sagen, das ist ein Krieg, denn eine "Operation" kann nicht so lange dauern. Und praktisch gibt es diese "Operation" schon seit Anfang März.
Frenzel: Wie zerrissen würden Sie Ihr Land, die Menschen in Ihrem Land einschätzen? Ist Ihr Land zerrissen?
Kurkow: Nein, ich würde sagen, dass ... Es gibt ein Klischee, das sehr oft von Journalisten im Westen benutzt wird, dass die Ukraine in zwei Teile gespalten ist. Es gibt prorussische Regionen und proeuropäische Regionen. Man sieht jetzt praktisch, es gibt den Donbass, wo vielleicht die Hälfte der Bevölkerung wirklich prorussisch ist und die anderen sind passiv oder haben Angst zu sagen, was sie glauben. Und dann gibt es natürlich die okkupierte Krim. Und die ganzen anderen 23 Regionen, die Mehrheit der Bevölkerung, die sind proeuropäisch, die wirklich an diesem Krieg teilnehmen, als Freiwillige oder als mobilisierte Soldaten.
Russischsprachige Ukrainer gibt es nicht nur im Donbass
Frenzel: Aber wenn es nicht so viele sind, wie geht man mit diesen Menschen um, wie geht man auch mit dem Russischen insgesamt in der Ukraine um? Sie sind selbst in Leningrad geboren, Sie schreiben auf Russisch. Ist das eine Situation, die für die Menschen, die irgendwie dazwischen sind, die sagen, die russische Kultur, die Dinge gehören auch zur Ukraine, immer schwieriger wird in der Ukraine?
Kurkow: Es ist schwieriger geworden jetzt, aber vorher hatten wir keine Probleme. Und ich muss sagen, dass die Mehrheit der russischsprachigen oder russischen ... Russen nicht im Donbass wohnen. Kiew ist zu 70 oder 80 Prozent eine russischsprachige Stadt, das ist die Hauptstadt des Landes! Charkiw, eine große Stadt mit einer Million Einwohnern, ist auch russischsprachig, wie auch Dnipropetrowsk und Odessa. Und die russische Kultur war immer ein Teil ukrainischer Kultur, aber natürlich, für radikale Nationalisten aus der Westukraine war das ein bisschen seltsam zu sagen, dass ein Teil der russischsprachigen Kultur zur ukrainischen Kultur gehört.
Frenzel: Der Konflikt, wie wir ihn hier sehen in den Medien, in den Fernsehbildern, ist meistens geprägt durch Männer in Kampfmontur, also nicht unbedingt wahrscheinlich die geistige Elite des Landes, Freischärler, wie auch immer sie heißen und wie auch immer sie sich zusammensetzen. Wenn Sie auf die Intellektuellen in Ihrem Land schauen: Gibt es da eine Debatte, gibt es da einen Streit?
Kurkow: Eigentlich nicht. Es gibt viele Texte, die sind speziell geschrieben, es gibt viele Kommentare, Diskussionen online, und ein bisschen Konferenzen und runde Tische. Aber leider spielen Intellektuelle keine große Rolle in dieser Situation. Eigentlich, in 2004/ 2005, während der Orangen Revolution, hatten ukrainische Intellektuelle eine große Rolle gespielt. Hier, seit dem Moment der ersten Gewalt, wurden die Intellektuellen nicht gebraucht. Und das ist schade, ich glaube, das ist auch ein Grund, warum alles so schief gegangen ist mit der Krim und auch mit dem Osten.
Frenzel: Ist das auch ein Grund, warum Sie dieses Tagebuch veröffentlicht haben? Ich habe gelernt, Sie schreiben seit 30 Jahren Tagebuch, aber haben sich erst jetzt entschieden, diese Tage, also seit dem November 2013 zu veröffentlichen. Für wen?
Kurkow: Eigentlich wollte ich dieses Buch für europäische Leser schreiben und ich hatte mit meinem Verleger in Innsbruck, Österreich, verabredet, dass ich an jedem Tag schreibe, was passiert. Natürlich wusste ich nicht, was wird morgen passieren, aber an jedem Abend sollte ich den Text von heute zu meinem Übersetzer Steffen Beilich nach Berlin schicken und zu dem anderen Übersetzer nach Paris. Das heißt, ich hatte dann keinen Einfluss, ich konnte nicht etwas korrigieren oder ändern.
Und für mich, als das Buch fertig war und ich es gelesen hatte, war das auch überraschend, weil man auch als Autor sich nicht an alles erinnert, was man im Tagebuch geschrieben hat. Und hier gibt es natürlich Geschichten aus meiner Familie, mit meinen Freunden, meine Reisen in der Ukraine, Gespräche mit verschiedenen Leuten, Spaziergänge auf dem Maidan oder zu Barrikaden und so weiter. Und dann, jedes Mal versuchte ich, in meinem Tagebuch etwas vorauszusehen, und immer war ich falsch.
Vor kurzem noch kamen in Deutschland viele "Putin-Versteher" zu Kurkows Lesungen - jetzt nicht mehr
Frenzel: Sie haben vorhin angesprochen, dass der Blick auf die Ukraine aus dem Westen, aus anderen Ländern heraus manchmal etwas einfach ist, die prorussischen Gebiete, die europäischen Gebiete. Haben Sie ganz speziell mit Blick auf die deutsche Debatte manchmal den Eindruck, dass wir die Zusammenhänge, die Schwierigkeiten, den Konflikt richtig verstehen?
Kurkow: Das ist ganz klar, ja. Denn die Leser, auch wenn die Artikel sehr gut sind, in Deutschland ist die Qualität der Reportage aus Ukraine viel besser als zum Beispiel in der französischen oder amerikanischen Presse, viel tiefer. Aber doch versuchen die Journalisten immer, etwas zu vereinfachen. Und dann benutzen sie natürlich diese Klischees, die existieren, und die sind nicht mehr richtig, ja.
Frenzel: Ich frage das auch deshalb, weil in Deutschland ja die Debatte groß war, groß ist darüber, ob wir zu Russland-freundlich sind, ob unsere Regierung einerseits mittlerweile zu Russland-kritisch ist, aber auch die Bevölkerung zu sehr Verständnis hat für die Dinge, die Moskau da, die Putin da umtreiben. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Kurkow: Ja, ich habe das selber beobachtet, denn ich bin regelmäßig für kurze Gespräche oder Konferenzen nach Deutschland geflogen seit Dezember. Und ich erinnere mich, wie viele Putin-Versteher es normalerweise im Publikum gab. Aber jetzt, vorgestern in Konstanz, wo ich eigentlich auch mit einem Gespräch und einer Lesung war, kommen keine Putin-Versteher mehr zu Lesungen oder Gesprächen über die Ukraine. Und man fühlt, dass eigentlich die Leute, das Publikum, jetzt Angst um die Zukunft von Europa hat.
"Ich habe Angst, denn Putin hat nichts mehr zu verlieren"
Frenzel: Haben Sie Angst mit Blick auf die Zukunft Ihres Landes?
Kurkow: Leider ja. Ich habe Angst, weil ich sehe, dass ... Putin hat nichts zu verlieren. Er wird nie gleiche Beziehungen mit dem Westen haben, wie er sie früher gehabt hat. Also hat er doch ganz starke Unterstützung von seinem Volk und das ist eigentlich sehr froh, dass die Krim jetzt Russland gehört, und das Volk möchte, dass mehr Land zum russischen Imperium kommt. Und das heißt eigentlich logischerweise, dass Putin nur noch nach vorne gehen kann.
Frenzel: Andrej Kurkow, herzlichen Dank für Ihren Besuch im Studio!
Kurkow: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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