Ukraine feiert 25 Jahre Unabhängigkeit

Kampf um Freiheit und Rechtsstaatlichkeit

Die Gebäude und Straßen in Kiew sind wegen der Unabhängigkeitsfeiern mit Flaggen geschmückt.
In Kiew wird die Unabhängigkeit gefeiert. Am 24. August 1991 hatte die Ukraine die Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. © dpa, picture-alliance Sputnik
Marieluise Beck im Gespräch mit Dieter Kassel · 24.08.2016
Enttäuschte Hoffnungen, bittere Kriegserfahrungen: Die Ukraine begeht heute den 25. Jahrestag der Unabhängigkeit. Trotz aller Hindernisse sieht die Grünen-Abgeordnete Marieluise Beck ein Erstarken der Zivilgesellschaft. Eine neue Generation sage: "So wollen wir nicht weiter leben."
Die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck (Bündnis 90/Grüne) sieht den heutigen 25. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine als wichtiges Datum. Das Land kämpfe um seine Freiheit, sagte Beck im Deutschlandradio Kultur:
"Das sollten wir uns klar machen. Wir sollten da auch wirklich ganz fest an der Seite dieser Menschen stehen."
Über die heute stattfindenden Militärparaden könne man geteilter Meinung sein:
"Sie sind nicht mein Ding. Aber dass dieses Land – und zwar nicht erst seit 25 Jahren, sondern seit mehr als 100 Jahren – darum ringt, dass es als eigenes Land anerkannt wird, das, finde ich, darf an so einem Tag schon gezeigt werden."

"Oligarchen, die nicht abtreten wollen"

In der Ukraine sei - trotz der noch immer stark verbreiten Korruption - seit der Orangenen Revolution ein Erstarken der Zivilbevölkerung zu beobachten, meinte Beck, die das Land sehr häufig bereist hat. Eine neue Generation sage: "So wollen wir nicht weiter leben. " Die Vertreter dieser Zivilgesellschaft hätten sich die "unglaublich langwierige Arbeit" vorgenommen, in diesem Land Institutionen und einen Rechtsstaat aufzubauen. Es gebe viele gut ausgebildete Menschen in dem Land.
Es seien jedoch viele Hindernisse für diese Entwicklung vorhanden, kritisierte Beck, auch Sprecherin ihrer Partei für Osteuropapolitik sowie Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages:
"Der Krieg, den Russland nicht enden lässt, weil er immer wieder Unruhe schafft; die Oligarchen, die nicht abtreten wollen; alle die, die Teil haben am Korruptionssystem. Ich bin trotzdem guten Mutes: Diese Zivilgesellschaft wird sich nicht wieder unterdrücken lassen, wenn wir fest an ihrer Seite stehen bleiben."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Heute feiert die Ukraine den 25. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der UdSSR. Es sagt viel über den Zustand dieses Landes heute, dass zu den Höhepunkten dieser Feier eine Militärparade gehören wird mit 4.000 Soldaten, mit Panzern und Raketenwerfern. Friedlich geht es leider nicht zu in der Ukraine, zumindest nicht überall. Aber das ist auch noch nicht einmal das einzige Problem dieses doch dann auch noch relativ jungen Landes, wenn man diese 25 Jahre jetzt mal nimmt.
Die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, unter anderem auch Sprecherin ihrer Fraktion für Osteuropapolitik kennt die Ukraine wirklich sehr gut inzwischen. Sie hat das Land über 30 mal bereist, zuletzt im Juni, da war sie unter anderem in Odessa und in der Donbass-Region. Schönen guten Morgen, Frau Beck!
Marieluise Beck: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Was fasziniert Sie so sehr an diesem Land?
Beck: Mich fasziniert nicht nur die Ukraine, sondern mich fasziniert Osteuropa. Ich bin ja doch noch so nahe an den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts dran, dass ich weiß, Europa ist nicht die Europäische Union, sondern ist viel größer, und wir haben das ein Stück vergessen. Wir haben vergessen, dass es jenseits der EU viele europäische Länder gab, die auch kulturell europäisch waren. Polen auf jeden Fall, das Baltikum, und eben auch die Ukraine.
Und der Spruch des Maidan war ja: 'Wir wollen nach Europa.' Ich habe immer gesagt, ihr seid Europa. Das ist das, worum es geht, Menschen wollen in die Freiheit, die gegen ihren Willen durch Roosevelt, Churchill und Stalin abgespalten worden sind in einen sowjetisch zugehörigen Teil. Und eigentlich sind wir dabei, Europa weiter zusammenzubauen.

Eine Nation mit zwei Sprachen

Kassel: Haben Sie denn gerade aktuell von Ihren letzten Reisen den Eindruck, dass wirklich eine klare Mehrheit in der Ukraine das immer noch will, wirklich Teil Europas sein? Man hört ja auch immer sehr viel von Nationalismus, von sehr nationalistischen Bestrebungen, nicht nur im Osten des Landes, das ist ein Spezialfall, sondern durchaus auch im Westen, in Kiew?
Beck: Ja. Wir tun uns in Deutschland mit Nationalismus zu Recht mit unserer eigenen Geschichte sehr schwer. Aber wir sehen da schon die Tatsache, dass wir für unsere Fußballmannschaft jubeln, dass es natürlich etwas gibt, was patriotisch ist und friedlich sein kann. Und die Ukrainer haben das Gefühl, sie sind ein Volk, sie sind eine Nation, sie sind eine Nation mit zwei Sprachen, aber sie sind eben doch ein eigenes Land.
Dass sie diesen Weg so unglaublich teuer bezahlen müssten, das haben sie sich, glaube ich, nicht vorstellen können. Für sie hat immer bedeutet – Europa: Vor allen Dingen das Ende dieser schrecklichen Korruption, dieses willkürlichen Justizwesens und dieser Tatsache, dass sie als Bürger keine Rechte hatten.

Vergeblicher Kampf gegen Korruption

Kassel: Aber Korruption ist ja eines der aktuellen Stichworte bezüglich der Ukraine. Laut Transparency International kämpft die Ukraine zusammen mit Russland um den zweifelhaften Ruf des korruptesten Landes Europas. Hat sich da gar nichts getan in den letzten Jahren?
Beck: Da hat sich in der Tat, und das ist die große Enttäuschung, sowohl nach der orangenen Revolution als auch dann, als auch 1990, 1991, als es in die Freiheit ging, daran hat sich tatsächlich in der Gesellschaft kaum etwas verändert. Wenige Reiche haben die Geschicke des Landes bestimmt, die Abgeordneten gekauft. Was aber passiert ist, dass zumindest seit der Orangenen Revolution eine wachsende Zivilbevölkerung und eine neue Generation sagt: 'So wollen wir nicht weiter leben.'
Und meine Erfahrung ist, dass diese Zivilgesellschaft so stark geworden ist, dass sie diese unglaublich langwierige Arbeit, überhaupt in diesem Land Institutionen aufzubauen und Rechtsstaat aufzubauen, dass die sich diese Arbeit vorgenommen haben. Es gibt viele gut ausgebildete Leute.
Alles sind im Augenblick Hindernisse. Der Krieg, den Russland nicht enden lässt, weil er eben immer Unruhe schafft. Die Oligarchen, die nicht abtreten wollen. Alle die, die teilhaben am Korruptionssystem. Ich bin trotzdem guten Mutes – diese Zivilgesellschaft wird sich nicht wieder unterdrücken lassen, wenn wir fest an ihrer Seite stehen bleiben.

Das zweitärmste Land Europas

Kassel: Nun hat die Geschichte aber weltweit gezeigt, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr kritisch sind, dann kann es auch keine politisch stabilen Verhältnisse geben. Und die Ukraine ist zurzeit das zweitärmste Land Europas – die Nummer eins ist die Republik Moldau, ein Nachbarland der Ukraine. Haben die Menschen nicht oft schlicht das Problem, dass sie im Alltag irgendwie gucken müssen, wo sie Arbeit finden, wie sie ihre Wohnung finanzieren, und dass sie darüber hinaus gar nicht an der Zukunft ihres Landes mitarbeiten können?
Beck: Das ist so. Die Verhältnisse sind extrem schwierig. Sie waren es aber auch in der Zeit davor. Professoren, Ärzte haben so wenig verdient, dass sie fast gar nicht drauf verzichten konnten, irgendwo noch eine halb legale Einnahmequelle zu finden. Deswegen ist das Korruptionssystem ja auch quasi bis ganz nach unten durchgedrungen. Die Menschen, wenn das Land in Ruhe gelassen würde, wenn es endlich in Ruhe gelassen würde von Russland, dann wären die Menschen bereit, durchzugehen durch diese Täler. Sie sehen nach Polen. Polen hatte die gleichen Ausgangsbedingungen und ist jetzt ein blühendes Land. Auch die Ukrainer können das schaffen. Aber sie brauchen dazu Frieden.
Kassel: Das heißt aber auch, wenn wir mal am Schluss bitte, Frau Beck, noch über den heutigen Tag reden, immerhin, große nationale Feier, 25 Jahre Unabhängigkeit. Anlass zu feiern hat man in der Ukraine eigentlich eher, wenn man in die Zukunft blickt und positiv denkt. So richtig aktuell, tagesaktuell, gibt es keinen Anlass zum Feiern, oder?

"Wir sollten fest an der Seite dieser Menschen stehen"

Beck: Es ist kein Anlass zum Feiern, aber dieses Land kämpft um seine Freiheit. Das sollten wir uns klar machen. Wir sollten da auch wirklich ganz fest an der Seite dieser Menschen stehen. Über Militärparaden kann man geteilter Meinung sein. Sie sind nicht mein Ding, das sage ich Ihnen ganz ehrlich, aber dass dieses Land, und zwar nicht erst seit 25 Jahren, sondern seit mehr als hundert Jahren darum ringt, dass es als eigenes Land anerkannt wird, das, finde ich, darf an so einem Tag schon gezeigt werden.
Kassel: Deshalb haben wir an so einem Tag auch genau darüber gesprochen mit der Grünen-Politikerin Marieluise Beck, die, das darf man, glaube ich, so sagen, Frau Beck, für die die Ukraine eines ihrer Lieblingsländer ist. Und diese Ukraine feiert heute unter, wie erwähnt, sehr, schwierigen Umständen den 25. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Frau Beck, in diesem Fall – ich wünsche ja immer gern meinen Gesprächspartnern alles Gute am Schluss, das tue ich natürlich auch in Ihrem Fall, aber dann wünschen wir doch beide einfach mal der Ukraine alles Gute.
Beck: Das finde ich eine überaus gute Idee!
Kassel: Danke schön, Frau Beck, einen schönen Tag noch!
Beck: Ja, schönen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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