Tschetschenische Flüchtlinge in Weißrussland

Für viele ist der "Transit" der Alltag

Tschetschenische Flüchtlingskinder
Auch Opfer häuslicher Gewalt: Tschetschenische Flüchtlingskinder © dpa
Von Sabine Adler · 24.02.2017
Sieben Millionen Euro will die EU für Abschiebezentren in Weißrussland ausgeben, ausgehandelt mit dem weißrussischen Autokraten Alexander Lukaschenko. Allerdings ist unklar, für wen genau diese Zentren sein sollen.
Finstere Blicke, wohin man schaut, jeden Nachmittag, wenn der Zug aus dem polnischen Grenzort Terespol in den weißrussischen Bahnhof von Brest rollt, steht denen, die aussteigen, die Enttäuschung im Gesicht. Ginge es nach ihnen, wären sie jetzt nicht wieder in Weißrussland, sondern in Polen und damit in der EU.
Eine Frau, Ende 30, in einem langen schwarzen Anorak probiert das schon seit sieben Monaten. 
25 Mal versuchte sie die Einreise nach Polen. Jetzt hat sie kein Geld mehr, lebt auf dem Bahnhof wie Rosa, die 48jährige Tschetschenin. Ihr Pass wurde einkassiert, weil sie keine Rückfahrkarte hatten:

"Sie wissen doch, dass wir es 20, 30, 40 Mal probieren", schimpft Rosa und meint mit "sie" die weißrussischen und polnischen Grenzschützer und Schaffner.
Rosas Tochter hat eine Lungenentzündung, sie selbst hat Bluthochdruck: "160 zu 100." Sie redet sich in Panik:

"Was wird mit meiner Tochter, wenn ich sterbe? Kommt sie dann hier in ein Heim? Als Waise allein in Brest?"

Eine Bank im Wartesaal ist das neue Heim

Rosas Heim ist eine Bank in der hintersten Ecke des Wartesaals, links stapeln sich Decken, rechts sitzt die Tochter. Rosa kann ihre Geschichte nicht erzählen, sie findet keinen Anfang, somit bleibt unklar, warum sie um Asyl bittet. So oft sie kann, steigt sie morgens um acht in den Zug nach Terespol, der 18 Minuten braucht für die sechs Kilometer lange Fahrt. Sie ist eine von hunderten Tschetschenen in Brest, im Sommer noch waren Tausende dort, sagt Jean Yves Bouchardy vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Weißrussland:
"Die Statistik spricht von 100.000 Personen pro Jahr. Das sind allerdings Versuche, nicht tatsächliche Grenzübertritte. Das muss man durch 20 teilen, so oft probiert es jede Person. Und von diesen vielen Leuten hat nur eine einzige Familie Asyl in Weißrussland beantragt. Die anderen sind Migranten, die in die EU wollen, weil sie dort Verwandte haben."
Somit ist das Flüchtlingshilfswerk nicht zuständig, sondern der weißrussische Migrationsdienst. Der nimmt das Angebot der EU gern an, Abschiebzentren in Brest, Witebsk und Gomel auszubauen. Doch für wen diese Einrichtungen gedacht sind, bleibt schleierhaft. Sicher nicht für die 160.000 ukrainischen Flüchtlinge, die seit dem Krieg im Donbass in Weißrussland leben und arbeiten dürfen.
Für Syrische Flüchtlinge ebenso wenig - es gibt nur 40. Und die Tschetschenen können keinesfalls gemeint sein, denn die sind Staatsbürger des russisch-weißrussischen Staatenbundes, haben jedes Recht, sich in Brest oder anderswo in Weißrussland aufzuhalten, sagt Alexej Begun, der Leiter des Migrationsdienstes.
"Sie kommen zu uns wie Gäste, wie Transitpassagiere. Sie bitten nur darum, ein wenig in Brest bleiben zu dürfen, und sie nach Polen zu lassen. Allerdings schauen wir nicht zu, wie sie es 20 oder 30 Mal probieren. Sie haben fünf Versuche. Wenn sie es dann nicht schaffen, müssen sie nach Hause fahren."

Die unzähligen Versuche der Heimatlosen

Das freilich ist graue Theorie im 300 Kilometer entfernten Innenministerium in Minsk. Eine junge Frau, die vor Tränen kaum ein Wort herausbringt, hat weit mehr als fünf Ausreisestempel im Pass. Sie lebt schon ein halbes Jahr auf dem Bahnhof, hat gerade den 21. Versuch hinter sich. Sie gibt nicht auf.
Die Hilfsorganisation "Wesna" kümmert sich um die Gestrandeten, ist aber viel zu klein für die große Aufgabe. Wladimir Welitschkin weiß aus den vielen Gesprächen, warum die Tschetschenen ihre Heimat verlassen.
"Junge Männer werden verhaftet und in Kellern gefangen gehalten, bis man sie irgendwann im Wald erschießt. Davor wollen Mütter ihre Söhne bewahren. Junge Mädchen werden in Tschetschenien jetzt schon mit zwölf Jahren verheiratet. Niemand fragt sie oder ihre Eltern um Erlaubnis. Auch davor fliehen die Familien."  
Oft sind es die Asylleistungen, die die tschetschenischen Flüchtlinge nach Deutschland locken, aber nicht immer, sagt der Brester Lokaljournalist Oleg Suprunjuk:
"Einige haben berichtet, dass der tschetschenische Präsident Kadyrow Familien gezwungen hat, Söhne und Ehemänner in den Donbass zu schicken, damit die an der Seite der prorussischen Separatisten kämpfen."
In Weißrussland Asyl zu beantragen hat für die Tschetschenen keinen Sinn, denn ihre Verfolger seien ihnen bis an die Grenze zu Polen auf den Fersen, sagt der Menschenrechtler Welitschkin. Nur in der EU fühlten die Flüchtlinge sich sicher. 

Kadyrows Arm reicht bis nach Moskau

"Kadyrows Arm ist lang, er reicht bis nach Moskau. Kadyrow-Leute sind selbst in Brest hinter den Flüchtlingen her. Sie haben Fotos von denen, die sie suchen und von den Auftraggebern, in deren Namen sie unterwegs sind, sogar hier an der Grenze." 
Einen Andrang wie an dem polnischen Grenzübergang gibt es nach Litauen oder Lettland nicht. Der Brester Lokaljournalist hat dafür nur eine Erklärung. Von hunderten Flüchtlingen lassen die Polen hin und wieder eine Familie rein. Das spricht sich rum.
"Das ist wie ein russisches oder tschetschenisches Roulette. Wenn du heute durchkommst, hab ich vielleicht morgen Glück."
Die Abschiebezentren, die mit EU-Geldern entstehen, lösen das Problem mit den Tschetschenen nicht, stellt Wladimir Welitschkin von der Hilfsorganisation "Wesnja" klar:
"Die Tschetschenen können nur deportiert werden, wenn sie gegen Gesetze verstoßen haben oder aber wenn Moskau und Minsk ihren Staatenbund auflösen."
Bevor sich Rosa wieder in den Zug setzt, schminkt sie die Augen: "Damit ich nicht weine, denn sonst verläuft die Tusche", sagt sie.
(str)
Mehr zum Thema