Transparenz von unten ist keine Diktatur

Von Stephan Hebel · 19.10.2012
Peer Steinbrücks dummer Satz "Transparenz gibt es nur in Diktaturen" verweist auf ein reales Problem, meint der Journalist Stephan Hebel. Ja, es gibt Formen der Transparenz, die einer Demokratie nicht würdig sind. Bei den Abgeordneten ist es das Gegenteil.
Gerhard Schröder wurde kürzlich gefragt, warum Peer Steinbrück Kanzler werden soll. Seine erste Antwort: "Wir haben schon 2005 mehr Transparenz und Regulierung auf den Finanzmärkten gefordert." Und das tue Steinbrück bis heute.

Transparenz: Seit Beginn der Euro-Krise ist kaum ein Begriff so sehr in Mode gekommen. Wer nur die Nachrichten einiger weniger Tage verfolgt, stellt fest: Transparenter werden sollen nicht nur die Finanzmärkte. Transparenter werden sollen: die Spritpreise, sagt das Kartellamt. Die Riester-Verträge, sagt die Regierung. Die Aufklärung des Nazi-Terrors, sagt Thüringen. Die Punkteregel beim Skispringen, sagt der Skispringer Severin Freund.

Transparenter werden sollen natürlich auch die Nebeneinkünfte von Abgeordneten. Sagen die Grünen und die Linken und die SPD und sogar ihr Kanzlerkandidat, Peer Steinbrück. Der will jetzt sogar die "totale Transparenz". Seine Partei hat den entsprechenden Vorschlag gerade präsentiert.

In allen genannten Fällen ist die Forderung nach Transparenz sicher sehr gut begründet. Beim Thema Nebeneinkünfte ist sie es sogar ganz bestimmt. Dass sie jetzt vielleicht kommt, die Transparenz, das verdanken wir zum guten Teil demselben Steinbrück, der noch vor zwei Wochen sagte, was uns Union und FDP bis heute erzählen: "Transparenz gibt es nur in Diktaturen." Steinbrücks eigene Nebeneinkünfte haben so viel Wirbel verursacht, dass dem Kandidaten und seiner Partei nichts anderes blieb als die Flucht nach vorn.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Jeder Abgeordnete soll reden oder arbeiten, wo er will. Aber wir Wähler wollen schon wissen, wo er sich am liebsten aufhält in jener Parallel-Welt der Kongresse und Feierstunden, wo Wirtschaftslobby und Politik sich täglich die Hand geben, und manchmal der eine dem anderen auch ein Honorar. Wir wollen selbst beurteilen, ob das einen Kanzlerkandidaten und seine Forderung nach Transparenz der Finanzmärkte glaubwürdiger macht oder eher nicht.

Also: Transparenz muss sein. Aber wie so oft, schleifen sich auch hier die Begriffe durch allzu häufigen Gebrauch ein wenig ab.

Transparenz bedeutet Durchsichtigkeit, auf die Politik übertragen: Durchschaubarkeit. Wenn sie vorliegt, dann ist sie total. Wer von totaler Transparenz spricht, ist vor allem auf der Suche nach radikal klingenden Superlativen, weniger auf der Spur der Sache, die er meint. Wer "Transparenzstufen" erfindet wie der Grüne Volker Beck, ist von der Höhe seiner Sprachkunst schon ein paar Stufen heruntergefallen. Denn wer Nebeneinkünfte transparent machen will, der verschafft den Bürgern Durchblick, da gibt es keine Stufen. Wer Sichtblenden einbaut, mag das nennen, wie er will, nur bitte nicht Transparenz.

Allerdings: Selbst Steinbrücks dummer Satz "Transparenz gibt es nur in Diktaturen" verweist auf ein reales Problem. Ja, es gibt Formen der Transparenz, die einer Demokratie nicht würdig sind. Diktaturen - und leider auch manche Behörde in Demokratien - spähen die Menschen aus. Sie rauben ihnen die Privatheit, um sie kontrollieren, im Zweifel verfolgen zu können. Sie praktizieren Transparenz von oben. Wer so tut, als hätte das mit der Offenlegung von Parlamentarier-Honoraren irgendetwas zu tun, der ist des Versuchs der Volksverdummung überführt.

Bei den Abgeordneten, und bei den Finanzmärkten erst recht, geht es um das genaue Gegenteil. Es geht um eine Grundvoraussetzung jeder Demokratie, nämlich Öffentlichkeit. Um jene Durchschaubarkeit der herrschenden Institutionen und Personen, die uns eine Meinungsbildung über ihr Tun erst erlaubt. Es geht um Transparenz von unten.

Das Recht der demokratischen Öffentlichkeit auf Transparenz ist mit der Spitzelpraxis von Diktaturen nicht zu vergleichen. Wer diese Vergleiche zieht, führt Verschleierung im Schilde. Also das Gegenteil von Transparenz.

Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig.
Stephan Hebel, freier Autor
Stephan Hebel© Frankfurter Rundschau