Tom McCarthys: "Satin Island"

Ein Anthropologe als Konsumforscher

Miniatur-Figuren, die Einkaufstüten in Händen halten
Die Hauptfigur in "Satin Island" nimmt Konzepte von Philosophen wie Gilles Deleuze oder Alain Badiou, um sie in eine Werbestrategie zu verwandeln. © dpa, picture alliance, Andreas Gebert
Von Gabriele von Arnim · 01.07.2016
Ein Anthropologe steht im Mittelpunkt von Tom McCarthys Roman "Satin Island". Dieser analysiert die Menschen, um Konsumenten aus ihnen machen zu können. Neben klugen Reflexionen über unsere Zeit, ködert uns McCarthy mit bizarrer Fantasie und großem Witz.
Er heißt U. Das spricht sich wie "you", meint also ein Du. Was gut passt zu seinem Beruf. Denn als Anthropologe beschäftigt er sich mit der Spezies Mensch.
Im Gegensatz zu seinem Helden Claude Lévi-Strauss, der ausgedehnte Forschungsreisen in damals noch entlegene Amazonasgebiete unternahm, ist U kein Reisender, sondern Angestellter einer riesigen Unternehmensberatung. Man muss die Menschen in ihren Sitten und Gebräuchen verstehen, um Konsumenten aus ihnen machen zu können.
U nimmt Konzepte von Philosophen wie Gilles Deleuze oder Alain Badiou, um sie in eine Werbestrategie zu verwandeln. Immer ohne Quellenangabe natürlich, um die kapitalistischen Kunden nicht mit linken Denkern zu verschrecken.
Er sitzt im Keller des spektakulären Glas- und Stahl-Protzbaus seiner Firma, gleich neben dem Lüftungssystem und soll dort, im Bauch des Unternehmens, außer den üblichen Vorlagen auch das ultimative Buch zum Zustand der Welt schreiben. Ständig arbeitet er daran und sucht vergebens nach dem allumfassenden Narrativ. Nie wird er wohl den Großen Bericht schreiben können, der vielleicht aber auch jeden Tag geschrieben wird. Jeder Mausklick ein Kapitel.
Gerade hat sein Chef Peyman einen riesigen neuen Kunden an Land gezogen. Was genau es mit dem Projekt auf sich hat, wird nicht deutlich. Aber das ist eigentlich auch egal. Die Hauptsache ist, man wirbelt und reist und redet und schreibt und wirft seine gigantischen Netze aus im Netz.
Tom McCarthys neuer Roman ist ein so scharfsichtiger wie entlarvender Kommentar zur heutigen Welt. Er ist weniger Erzählung als Reflektion. Die Lektüre fordert einen heraus, man muss mitdenken, selber denken und wird zugleich so lockend in einen Strom klugen Wissens hineingezogen, dass man begeistert mitfließt.

Eine rätselhaft grausame Foltergeschichte

Und wenn einem gerade die Puste auszugehen droht, holt McCarthy einen zurück in die analoge Welt. Lässt U lakonisch berichten vom Sex mit Madison, vom Sterben seines Freundes Petr oder von der Ölkatastrophe, über die er gerade ein Dossier anlegt. Er legt überhaupt Dossiers über alle möglichen Themen an, über Fallschirme, die nicht aufgehen, über das Buffering – die kleinen trudelnden Kreise auf dem Bildschirm, wenn mehr Informationen ankommen wollen als der PC annehmen kann. Und immer haben seine konkreten Recherchen eine zweite Ebene, sind Reflexionen über Zeit, Tod, Erinnerung, Geschwindigkeit.
Und ausgerechnet Madison, bisher nur als Bettgespielin vorgestellt, erzählt ihm eine rätselhaft grausame Foltergeschichte aus ihrer Zeit als antikapitalistische Aktivistin. Es scheint auf der Geist von Guantanamo.
Es ist diese Mischung aus bizarrer Fantasie, fast beängstigender Bildung und großem Witz, die dieses Buch unwiderstehlich macht.
Einmal glaubt U die Lösung seiner großen Aufgabe gefunden zu haben. Satin Island steht auf seinem Bildschirm. Er hat sich verschrieben - aber ist dieses Fantasiewort, diese Fantasieinsel vielleicht die Antwort auf alle Fragen? Würde Peyman aus diesem Produkt des Zufalls nicht eloquent die Zusammenfassung von Welt und Zeit herbeireden können?
Nicht zufällig hat U auch ein Dossier über den Turmbau zu Babel und die babylonische Sprachverwirrung angelegt.

Tom McCarthy: Satin Island
Aus dem Englischen von Thomas Melle
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2016
224 Seiten, 19,99 Euro

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