Toleranz

Warum Intoleranz manchmal nötig ist

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Alexander Kissler sieht es so wie Karl Popper, dass wir "im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden". © picture alliance / zb / Andreas Franke
Von Alexander Kissler · 02.11.2015
Toleranz ist die Tugend der pluralistischen Gesellschaft. Sie gilt als Respekt gegenüber Werten und Lebensstilen, die man nicht teilt. Dennoch ist Intoleranz manchmal angebracht, meint der Kulturjournalist Alexander Kissler - zum Beispiel bei religiösem Extremismus.
Toleranz ist gut, Toleranz ist wichtig. Sie hat einen wunderbaren Klang. Tolerant sein – wer möchte das nicht? Und so leben wir, hier im Westen, mitten in Deutschland, in einer auf den ersten Blick wunderbar toleranten Welt.
Niemand wird scheel angesehen, wenn er seine Neigungen, Vorlieben oder Marotten offen zu Markte trägt. Solange des einen Freiheitswünsche die Freiheitsrechte des anderen nicht einschränken, lassen wir allen alles durchgehen – um den Preis freilich, dass der kostbare Begriff sich schleichend entleert.
Toleranz nämlich wird falsch verstanden, begreift man sie als rhetorische Aufhübschung eines flächendeckenden Desinteresses, als Glitzerstaub, der eine fundamentale Ignoranz zum Leuchten bringen soll.
Wahre Toleranz verlangt Standpunkte
Wahre Toleranz ist ohne Haltung nicht zu haben. Haltung verlangt einen eigenen Standpunkt und somit die Bereitschaft, Nein zu sagen. Wahre Toleranz braucht die Bereitschaft zur Intoleranz in einigen wenigen, aber sehr entscheidenden Punkten.
Im Sommer 2009 wollte der gebürtige Ägypter Reda Seyam seinem Sohn den Namen Dschihad geben. Das Standesamt weigerte sich, den Namen einzutragen, doch das Berliner Kammergericht gab dem Papa Recht. In Deutschland dürfe man Kinder Dschihad nennen. Reda Seyam freute sich und zog vier Jahre später von Berlin nach Syrien um. Dort machte er Karriere bei der Terrormilz "Islamischer Staat", wurde, so hieß es, deren Bildungsminister.
Vermutlich sah der Islamist sich in seinem Terrorkampf wider den Westen durch die Berliner Erfahrungen bestätigt. Ist eine Weltanschauung, die sich auf dem Standesamt den "Heiligen Krieg" erklären lässt, nicht reif für den Untergang?
Intolerante dürfen nicht auf Toleranz hoffen
Der Westen dankt ab, wo er seine Ursprünge entsorgt, wo er vergisst, aus welchen Werten er gemacht ist, und wo er für alles nur Verständnis hat, auch für Intoleranz. Die Intoleranten sollten aber nicht auf Toleranz hoffen dürfen.
Sozialromantik ist es, wenn Ansprüche auf eine ethnische oder religiöse Spezialmoral als Lokalfolklore entschuldigt werden. Es ist nicht tolerabel, wenn Menschen geschlagen oder bedroht werden, wenn man ihnen mit Vergeltung droht im Namen der Ehre oder des Clans.
Auf die freiheitlichen Prinzipien des Westens darf es keinen Rabatt geben. Die Freiheit der Meinung und der Religion und der Wissenschaft, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Würde aller Menschen sind ebenso wie das Gewaltmonopol des Staates nicht verhandelbar.
Wer gegen eines dieser Prinzipien verstößt, aus welchen Gründen auch immer, ob er Deutscher ist oder Nichtdeutscher, Moslem oder Nichtmoslem, Zuwandernder oder Einheimischer, ob er politisch rechts oder links steht – der hat kein Recht, mildernde Umstände ins Feld zu führen.
Vielfalt weiß um ihre Grenzen
Wer heute von Toleranz redet, setzt gerne hinzu, pure Toleranz sei zu wenig, da sie ein hierarchisches Gefälle zwischen Toleranzgeber und Toleranzempfänger voraussetze. Wechselseitiger Respekt müsse das Ziel sein. Theoretisch stimmt das.
Im Angesicht der weltweit erhitzten Konfliktlage wäre aber praktisch viel gewonnen, der Minimaldefinition von Toleranz wieder Geltung zu verschaffen. Sie besagt, dass man duldet, was man ablehnt – dass man also um der Einsicht willen in ein höheres Gut, nämlich das friedliche Zusammenleben, Unterschiede zulässt.
Vielfalt bereichert ungemein, wenn sie um ihre Grenzen weiß. Toleranz ist wichtiger denn je, ist der entscheidende Beitrag des Westens zur Weltgemeinschaft. Gerade deshalb sollten wir, wie es Karl Popper einmal formulierte, "im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden".

Alexander Kissler, geboren 1969, ist Kulturjournalist und Sachbuchautor. Er schrieb regelmäßig für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", war Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und anschließend beim "Focus Magazin". Seit Januar 2013 leitet er das Kulturressort "Salon" des Monatsmagazins "Cicero". Jüngstes Buch: "Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss." (Gütersloher Verlagshaus 2015)

Alexander Kissler, deutscher Literatur- und Medienwissenschaftler, Kulturjournalist, Moderator und Sachbuchautor.
© picture alliance / dpa / Erwin Elsner
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