"Todesengel" am Ort des Heilens

19.03.2008
Der Tod des schwerkranken Schwiegervaters ist schmerzhaft, doch das Leben geht weiter. Als einige Wochen nach der Beerdigung die Presse meldet, der Mann wurde umgebracht, steht für Judith Arlt das Leben plötzlich still.
Eine Krankenschwester auf der Intensivstation hat ihren Schwiegervater mit einer Injektion getötet. Die Frau wird verhaftet, gesteht und wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünf Menschen hat sie nachweislich in den Tod geschickt, bei zwei weiteren hat sie es ohne Erfolg versucht.

Diese Geschichte ist nicht erfunden, sie hat stattgefunden. Am 16.August 2006 wurde der 77-jährige schwerkranke Gerhard Arlt in der Berliner Charité von der Krankenschwester Irene B. getötet. Die Presse war wochenlang voll von den Schreckensmeldungen über den "Todesengel" und den Prozess am Amtsgericht Moabit in Berlin.

Wie lebt man nach dem Mord eines nahen Angehörigen weiter? Wie geht man damit um, dass dies im Krankenhaus, einem Ort des Heilens geschieht? Judith Arlt schreibt gegen die eigene Fassungslosigkeit, ihre Formulierungen sind stakkatoartig. Zahlen, Daten, Fakten: 16. August 2006, Station 104i, 18.15 Uhr, Irene B. setzt die Spritze, fünf Milligramm des Narkosemittels Dormicum, wirkungslos. Keine halbe Stunde später, 18.40 Uhr, selber Tag, selbes Zimmer, spritzt die Schwester das Blutdrucksenkende Mittel NPN. Zwölf Minuten später, 18.52 Uhr, wird der Tod festgestellt. Das Unfassbare lässt sich nicht beschreiben.

Der Mord auf der kardiologischen Intensivstation der Charité, Europas größten und bekanntesten Universitätsklinikum, liest sich wie eine Akte, eine Krankenakte, eine Prozessakte. Jedes Detail wird akribisch aufgelistet. Und zwischendrin taucht immer wieder isoliert ein Bild auf: Die spritzende Hand der Krankenschwester, wie ihr Daumen zwischen zwei Fingern die Überdosis in den Blutkreislauf des schwerkranken 77-Jährigen drückt.

Warum? Wie konnte es dazu kommen? Die Spurensuche führt die Autorin in ein Dickicht von unheilvollen Hierarchien, zeigt Überarbeitung, schlechte Koordination und mangelnde Absprachen. Ein Horrorszenario des alltäglichen Klinikablaufs. Pfleger, Schwestern und Ärzte, die sich in einem Arbeitsumfeld von Macht und Ohnmacht bewegen. Fast jedem scheint schon vor den Morden irgendetwas aufgefallen zu sein, es kursierten massive Gerüchte unter dem Klinikpersonal über die Krankenschwester. Es gab eindeutige Hinweise und Beschwerden an die Vorgesetzten. Nur gehandelt hat niemand.

Eine Mauer von Stillschweigen und Wegschauen hat den Tod ihres Schwiegervaters und den weiterer Patienten begünstigt, lautet der massive und mehrmals wiederholte Vorwurf im Buch. Er ist deutlich an die Klinikleitung der Charité gerichtet, nennt aber keinen der Verantwortlichen beim Namen. Wie auch sonst keine der Figuren einen Namen hat. Die Ich-Erzählerin spricht von der Stationsschwester, dem Chefarzt, dem Pfleger oder von W., ihrem Mann, vom Schwiegervater, und von K., seinem ältesten Sohn. Das ist, angesichts der schweren Vorwürfe, sicher ein juristischer Trick. Andererseits aber auch ein gutes Stillmittel, um den Lesern die emotionalen Auswirkungen des Geschehens nahezubringen. Indem die Autorin nur eine Bezeichnung für die Personen wählt, bietet sie den Raum, sich mit den Figuren identifizieren zu können. Es ist ihre Geschichte, aber sie hätte auch jedem anderen passieren können. Mindestens vier weiteren Kranken ist sie so passiert, wie vor Gericht herauskommt.

Judith Arlt nimmt gemeinsam mit ihrem Mann, dem Sohn des Ermordeten, am Prozess teil. Als Nebenkläger hat das Paar Einsicht in die Prozessakten. Weitere Quellen sind die zahlreichen Presseberichte über den Fall und persönlichen Treffen mit den Verantwortlichen der Klinik.

"Entlassen nach Tod" ist aber weit mehr als ein persönlicher Tatsachenbericht. Die Autorin ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Das äußert sich in ihrem prägnanten, klaren Stil. Kein Wort ist zuviel. Auch in Aufbau und Komposition der Geschichte ist der Erzählprofi präsent. Das Nebeneinander von Innen- und Außenwelt der Erzählerin wechselt gekonnt zwischen Rückblicken, Traumsequenzen und den Fakten. Neben den vielen und erschreckenden Details gibt es so auch den Blick auf die inneren Zustände der Erzählerin. Und man erfährt, was der Schwiegervater für ein Mensch war und wie er gelebt hat.

Wüsste man nicht um den wahren Hintergrund, könnte man das Judith-Arlt-Buch für einen spannenden Kriminalroman mit psychologischem Tiefgang halten. Doch das Wissen um die wahre Tat, lässt einen noch lange über den Umgang mit alten und kranken Menschen in unserer Gesellschaft nachdenken.

Rezensiert von Susanne Nessler

Judith Arlt, Entlassen nach:Tod. Todesfalle Krankenhaus. Eine wahre Geschichte.,
mvg Verlag, Heidelberg, 2008, 200 Seiten, 15,90 EUR