Tod in den Alpen

Von Irene Meichsner · 09.10.2013
260 Millionen Kubikmeter Gestein, Geröll und Erde rauschten zu Tal und stürzten in den Stausee von Vajont in den Dolomiten. Die überschwappenden Fluten ergossen sich über mehrere italienische Dörfer. Über 2000 Menschen verloren ihre Leben.
Der Tod kam in Minutenschnelle. Am 9. Oktober 1963, um 22 Uhr 39, lösten sich vom Monte Toc südlich der italienischen Dolomiten 260 Millionen Kubikmeter Gestein, Geröll und Erde - und stürzten in den Stausee von Vajont, damals die höchste Talsperre der Welt. Der ARD-Korrespondent Rolf Gallus:

"Das Staubecken, das ein großes Kraftwerk im Piavetal versorgte, war bis an den Rand mit Wasser gefüllt. … Durch die gewaltige, riesenhafte Erdbewegung, deren knallendes explosivartiges Geräusch kilometerweit vernommen wurde, wurden die Wassermassen über die Staumauer hinweg in das Tal des Piave in Richtung Belluno geschleudert."

In weniger als einer Minute auf fast hundert Stundenkilometer beschleunigt, ergossen sich die Fluten über mehrere Dörfer und das vier Kilometer unterhalb des Stausees gelegene Städtchen Longarone. Ein Radioreporter flog am nächsten Tag mit einem kleinen Charterflugzeug über das Katastrophengebiet.

""Es ist ein so schauriges Bild, das sich hier aus der Luft bietet. Unter uns jetzt, direkt unter unserer Piper, der Ort Langarone. Er hatte bis gestern Abend 2000, über 2000 Einwohner. Von der ganzen Ortschaft gibt es noch ein Haus, und die Kirche ragt aus dieser Schlammmasse hervor. Wohin die anderen Häuser gekommen sind? Was mit den Menschen ist? Man kann es nicht erkennen. Die Straßen sind überschwemmt, die Brücken sind teilweise eingestürzt. Und man kann auch die geknickten Telefon- und Telegrafenmasten erkennen."

Wie konnte so ein Unglück passieren? Ein Zeitzeuge, Bruno De Michiel, erinnerte sich:

"... Die Leute haben immer gesagt, es ist gefährlich. … Sie haben sehr wohl verstanden, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. … Aber die Behörden versicherten immer, dass es keine Probleme gäbe …"

1943 bekam die Adriatische Elektrizitäts-Gesellschaft, abgekürzt: SADE, die Genehmigung für den Bau eines 200 Meter hohen Staudamms und eines Staubeckens für rund 50 Millionen Kubikmeter Wasser. Bald schmiedete sie aber schon Pläne für einen 261 Meter hohen Damm und einen Stausee mit dem dreifachen Fassungsvermögen. Noch bevor die Genehmigung erteilt war, wurde 1957 mit den Bauarbeiten begonnen. Zweifel von Geologen, ob die Flanke des Monte Toc, die als natürliche Seitenwand für das Staubecken dienen sollte, dem enormen Wasserdruck würde standhalten können, schlug man in den Wind. Die SADE war mit den Behörden eng verbandelt, Proteste von Anwohnern wurden ignoriert. Im September 1959 war der Staudamm fertig. Danach wurde das Becken mehrfach probeweise mit Wasser gefüllt und wieder entleert. Ein erster massiver Bergrutsch im November 1960 richtete zum Glück keine größeren Schäden an. Aber die Erdstöße häuften sich, Risse in den Häusern und Straßen waren unübersehbar. Schließlich kam der Monte Toc ins Rutschen.

"Mein Haus - alles weg. Mein Mutter, meine drei Schwestern, mit ihre Männern und ihre Söhne, zusammen 14 Stück - alles gestorben. Aber nur fünf Personen habe ich gefunden. Und alles neun sind verschollen."

Giuseppe De Vecchi kam mit dem Leben davon, weil er an dem Tag auswärts gearbeitet hatte. Insgesamt forderte die Katastrophe fast 2000 Menschenleben. Gleich nach dem Unglück am 9. Oktober 1963 begann die Untersuchung der Ursachen. 1968 wurden zehn Angeklagte zu 21 und einer zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Verursachung einer Überschwemmungskatastrophe. Ein Berufungsgericht verringerte später die Strafen für einige von ihnen und sprach andere wegen fehlender Beweise frei. Longarone wurde neu aufgebaut. Das Staubecken blieb leer, aber die riesige Staumauer steht heute noch. Sie hatte das Unglück fast unversehrt überstanden - was viele damals kaum glauben konnten.

"Nur ganz oben, dort wo die Wassermassen über den Damm traten, sieht man einige Beschädigungen, … ansonsten aber steht der Damm. Und er wirkt in dieser öden und tristen Stimmung am Boden beinahe wie das einzige Menschenwerk, das noch übrig geblieben ist."