Tod eines russischen Reformers

Von Klaus Kuntze · 14.09.2011
Lenin bezeichnete ihn als Henker und Mörder, liberale Politiker sahen in ihm einen Reformer, der der russischen Geschichte einen anderen Lauf hätte geben können. Ein Attentat auf Pjotr Stolypin, den tatkräftigen Ministerpräsidenten des letzten russischen Zaren, beendete am 14. September 1911 die Laufbahn des umstrittenen Politikers.
Ungelöste politische und soziale Fragen entluden sich im Jahr 1905 in Russland in einer Revolution, die gewaltsam vom Staat unterdrückt wurde. Landesweit waren hunderte Opfer zu beklagen.

Zar Nikolaus II. wird auf Pjotr Stolypin, den Gouverneur des Gebietes Saratow, aufmerksam, der besonders energisch durchgegriffen hatte. Verunsichert durch die Revolution, beruft er Stolypin im Frühjahr 1906 zum Innenminister. Der Zar hatte Interesse, seine Macht zu erhalten, zeigte aber wenig Verständnis für die ursächlichen Schwierigkeiten seines Landes.

Auf die ab 1890 schnell fortschreitende Industrialisierung und die daraus erwachsenden Probleme der Arbeiter, auf die Verarmung der Bauern, die trotz der Entlassung aus der Leibeigenschaft landlos blieben, hatte er nicht die erforderlichen Antworten gefunden. Der Historiker Edward Crankshaw charakterisiert ihn:

"Er zeichnete sich nicht nur durch Entschlusslosigkeit aus, ihm fehlte von Natur aus jeder Sinn für Entscheidungen. Ein Mann, der über keine eigene Autorität verfügte."

Der neue Innenminister Stolypin erwies sich als hart und unnachgiebig. Nikolaus betraute ihn alsbald auch mit dem Amt des Regierungschefs. Stolypin, 1862 geboren, sah als überzeugter Monarchist und Patriot seine Aufgabe darin, die innere Schwäche Russlands anzugehen. Vor allem die Bauernfrage. Vier Fünftel der russischen Bevölkerung lebten auf dem Lande.

"Solange der Bauer arm ist, solange er persönlich keinen Grund und Boden besitzt, solange er gezwungen ist, im Schraubstock der 'Bauerngemeinde' zu leben, solange wird er ein Sklave bleiben."

Nikolaus kann sich der leidenschaftichen Überzeugungskraft seines Premiers, eines - so widersprüchlich das klingt - konservativen Reformers, nicht entziehen. Er verkündet, noch ganz unter dem Eindruck der Revolution, im Herbst 1906 die Reformen Stolypins, Gesetze und Maßnahmen, die sich gegen die Arbeitslosigkeit auf dem Lande sowie auf die Intensivierung der agrarischen Leistung richteten und es erleichtern sollten, Arbeitskräfte für die aufstrebende Industrie zu gewinnen.

"Jeder Bauer konnte nun aus der Bauerngemeinde austreten, er verfügte über eigenes Land, das nicht mehr aus einzeln verstreut liegenden Parzellen bestand. Diese Gesetze sollten die verarmten, schlampig geführten Kollektive abschaffen, die weder Platz für Eigenverantwortung noch für moderne Agrarmethoden boten."

Eines der größten Sozialexperimente, wie es der Historiker Heinz Dietrich Löwe nennt, begann schon nach einem halben Jahrzehnt deutlich zu greifen. Es setzte eine Entwicklung ein, die neben anderen von Stolypin angestoßenen Reformen Russland vor dem Umbruch zum sozialistischen Staat hätte bewahren können. Das meinte Alexander Solschenizyn wohl, als er von Stolypin als dem größten russischen Politiker des 20. Jahrhunderts sprach.

Aber Stolypin, der keine Seilschaften gebildet hatte, hing allein von der Gunst des Zaren ab. Und je weiter die Revolution entrückte, desto stärker wuchs auf den ewig schwankenden Herrscher wieder der Einfluss des ignoranten Hofes und des erzkonservativen Adels. Nikolaus ließ seinen Premier fallen. Der beabsichtigten Entlassung, nach nur fünf Amtsjahren, kam das Attentat auf Stolypin am 14. September 1911 zuvor.

Einem Besuch des Zaren zu Ehren gibt das Kiewer Theater an diesem Unglückstag Rimski-Korsakows Oper vom "Zaren Saltan". In der Pause nach dem 2. Akt tritt ein junger Mann an Stolypin heran und feuert zwei Schüsse auf ihn ab. Der Zar beschreibt die folgenden Augenblicke:

"Rechts von der Loge im Parterre, direkt mir gegenüber, stand Stolypin. Er wandte mir langsam das Gesicht zu und machte ein Kreuzzeichen mit der Linken in die Luft. Erst da erkannte ich, dass er blass wurde und dass an seinem Gilet und der rechten Hand Blut war. Man half Stolypin aus dem Theater zu gehen. Dann füllte sich der Saal wieder und die Hymne wurde gesungen."

Vier Tage nach dem Attentat starb Pjotr Stolypin; die Reformen hatten ihren Motor verloren. Der Attentäter, ein abtrünniger Revolutionär und Informant des Geheimdienstes, wurde von einem Militärtribunal übereilig zum Tode verurteilt und alsbald gehängt. Hintergründe und Motive blieben, da das Verfahren nicht protokolliert wurde, bis zum heutigen Tag ungeklärt.